Die Smartphone-Debatte ist tot. Tot-langweilig. Sowohl in christlichen wie auch in nichtchristlichen Kreisen wird das Thema viel zu zahm behandelt.

Wo bleibt der Neil Postman der heutigen Zeit? So wie Neil Postman in den 80igern mit “Wir amüsieren uns zu Tode” vor dem Fernseher gewarnt hat, hätte ich nun erwartet, dass ein paar Mutige aufstehen und uns das Problem vor Augen malen würden.

Aber nein, alles was ich lese ist “Digital Detox”, ein bisschen Apps deinstallieren, das Handy auf lautlos stellen und vielleicht mal einen Tag weglegen. Ist es denn nicht klar, dass es so nicht getan ist?

Ist das Problem das Smartphone per se? Nein, natürlich nicht, doch es ist, was es mit uns macht, Neil Postman formuliert es in “Amusing ourselves to Death” treffend:

there is nothing wrong with entertainment. As some psychiatrist once put it, we all build castles in the air. The problems come when we try to live in them.

Auf das Smartphone übertragen: als reines Tool ist es ja total nützlich. Nur verwandelt es sich ganz schnell zur ewigen Ablenkung und zum Zeitfresser. Diese Tatsachen lassen sich nicht verweigern. Es geht nicht anders: es muss einen Weg geben, den Smartphone-Konsum einzudämmen.

Das Problem: Als Smartphone-Gegner landet man in der Ecke der Technologie-Verweigerer. “Du musst halt mit der Zeit gehen!”.

Nun, als leidenschaftlicher Programmierer habe ich dieses Argument relativ schnell entkräftet. Die meisten Dinge lassen sich auch ohne Smartphone auch vom Computer aus machen, ohne so einen permanenten Fokus-Zerstäuber in der Hosentasche zu haben.

Ich habe mein Smartphone vor ein paar Jahren aufgegeben und bin wieder bei einem alten Nokia. Natürlich kann ich nun einige Dinge nicht mehr “hier und jetzt” tun, sondern muss warten, bis ich wieder zu Hause bin.

Doch wie heisst es so schön: “Wenn dein rechtes Auge zum Abfall verführt, dann reiss’ es aus!”. Ist das so schwer? Wer merkt, dass er seine Zeit nur noch vor dem Fernseher verbringt, stellt ihn raus. Wieso passiert nicht dasselbe mit dem Smartphone?

Ja, es gibt viele Leute, die können gut einen Fernseher im Wohnzimmer stehen haben, ohne sich die ganze Zeit davon angezogen zu fühlen. So gibt es auch viele, bei welchen das Smartphone die meiste Zeit auf dem Tisch liegt.

Doch es gibt auch sehr sehr viele, die es nicht können. Gut sieht man, wenn man sich ansieht, wieviel Geld mit Smartphones und Services verdient wird. In der Liste der wertvollsten Firmen der Welt sind die ersten fünf Firmen Technologie-Konzerne. Ja. Alle fünf. Apple, Amazon, Alphabet (Google), Microsoft und Facebook.

Ich glaube die richtige Antwort muss um einiges radikaler sein, als was ich im Netz lese. Sie muss so sein, dass unsere Kinder aufhorchen.

Also: wo sind die radikalen Antworten auf die Smartphone-Krise? Wo sind die, welche weiter gehen als nur ein schlechtes Gewissen zu haben? Wo sind die, welche ihre Smartphones umtauschen zu alten Nokias?

Nach etwas Theorie zum Smartphone-Konsum nun zum eigentlichen Kernstück dieser Reihe: meine – zunächst vergeblichen – Versuche, meine Smartphone-Sucht in den Griff zu kriegen.

Was hier folgt ist eine Rückblende von 8 Jahren Selbst-Versuch zu “mein Handy und ich”.

Versuch 1: das Problem wird sich auswachsen irgendwann

Die Faszination des Smartphones wächst sich irgendwann aus, nicht?

Wenn man alles mal gemacht hat, dann sollte sich irgendwann Langeweile einstellen, oder?

So dachte ich, würde es verlaufen mit dem Smartphone. Denn mit allem anderen Frisch-Gekauften verhält es sich doch so.

So versuchte ich alles zu nutzen, was dieses neue Ding bietet: Ich nutzte Tripadvisor, um gute Restaurants zu finden und Google Maps als Navi, um zu Fuss dahin zu finden. Ich versuchte mich in ständiger Kommunikation über Twitter/Facebook/Mail. Ich nutzte meine Zeit im Zug zur Arbeit mit Hören von Podcasts. Zu Hause wurden alle CDs in MP3s verwandelt, so dass ich mittels Sonos-App die digitale Musik in irgendeinem Zimmer abspielen konnte.

Dazu habe ich zig Accounts eröffnet und Apps installiert.

Bis ich bei 637 Apps war.

Ja, ich hab’s gezählt. Und ja: einige dieser Apps hatte ich gleich wieder gelöscht. (Peinliche Im-Nachhinein-Statistik: wenn ich pro App nur mal 3 Minuten Ausprobier-Zeit zähle, dann war ich damit über 30 Stunden beschäftigt…)

Doch die Faszination liess nicht nach. Ich versuchte, das Ding noch effizienter zu machen, denn es tat noch nicht genau das, was ich wollte.

Also habe ich das Gerät gerootet und andere Betriebssysteme darauf installiert. Und das frass richtig viel Zeit weg. Ich verbrachte Wochenenden damit.

Es dämmerte mir: die übertriebene Faszination nach dem Smartphone würde sich nicht von selbst lösen. Aus dem hohlen Bauch heraus kamen mir zwei Möglichkeiten in den Sinn: Notifications deaktivieren und Apps deinstallieren.

Versuch 2: Notifications deaktivieren

Dass Notifications aus dem Alltag rausreissen, ist ein No-Brainer. Das war mir auch ziemlich schnell klar. Die schlimmsten Notifications waren Mails von der Arbeit: darüber kann ich mich ordentlich aufregen und das kann auch gut einen Abend lang hinhalten.

Die Lösung schien einfach: Zum Glück lassen sich praktisch alle Notifications abschalten.

Doch das funktionierte nicht.

Denn die Neugier im Hirn war stärker: Als die Notifications ausblieben, meldete sich das Verlangen nach neuen Mails. Ich öffnete die Mail-App alle paar Minuten und checkte neue Mails per Swipe-Down. Nun war ich also noch öfter abgelenkt als zuvor, denn auch wenn nichts reinkam, griff ich zum Smartphone. Und noch schlimmer: jede Ablenkung dauerte nun länger, denn falls kein neues Mail da war, stöberte ich kurzerhand durch Altes.

Das war also ein Schritt zurück. Nächster Versuch: Apps deinstallieren.

Versuch 3: Apps deinstallieren

Die Hürde, Mails zu checken ist einfach zu klein, dachte ich. Man müsste die Hürde höher stellen. Falls dann der Wunsch nach neuen Mails aufkommt, dann würde die zu hohe Hürde den Wunsch ersticken.

Also habe ich die schlimmsten Apps deinstalliert. Apps wie “Mail” liessen sich nicht deinstallieren. Da entfernte ich das Konto auf dem Smartphone.

Und: Ja, das funktionierte. Jedenfalls zum Teil.

Es funktionierte genau da, wo der Wunsch genügend klein war. Zum Beispiel beim Checken von Tweets. Oder Facebook.

Es funktionierte zum Beispiel auch auf der Toilette. Oh, das ist nochmals ein Thema für sich: Smartphone-Nutzung auf dem WC. Ich find’s etwas zu unschicklich, um gross darauf einzugehen, doch die Zahlen beweisen, dass mehr als 50% ihr Smartphone auf der Toilette benutzen und ein Arbeitskollege bestätigte mir unlängst, dass seine WC-Besuche erheblich kürzer wären, wenn er sein Smartphone nicht mit sich tragen würde.

Smartphone konsumieren auf der Toilette fällt in die Kategorie “ich-will-jederzeit-unterhalten-werden”. Wie auch das Zücken des Handys beim Warten auf den Bus. Fehlt in solchen Momenten die App, dann ist die Hürde zu gross, um zu einem kleinen digitalen Snack zu gelangen und das Smartphone bleibt in der Hosentasche. Ja, für diese Momente funktioniert das Deinstallieren von Apps.

Nun gab es aber Situationen, wo der Wunsch zu gross wurde. Zum Beispiel nach dem Verschicken eines wichtigen (oder etwas zu emotionalen) Mails. Die Neugierde meldete sich. Sie wollte wissen, wie die Reaktion ausfällt, ob schon ein neues Mail im Posteingang wäre. Anfangs blieb das Smartphone brav in der Hosentasche. Doch der Wunsch meldete sich wiederholt zurück. Und statt durch die hohe Hürde erstickt zu werden, meldete er sich jedes Mal stärker.

Irgendwann gab ich dem Wunsch nach.

Entweder nahm ich dann den Umweg über den Browser. Denn Mail, Twitter, Facebook, etc. lassen sich alle gut über den Browser bedienen, oft ist das Erlebnis sogar ziemlich dasselbe wie über die App. Oder ich installierte die App einfach wieder.

Und meist passierte es dann, dass mit der einen “wieder-installierten” App auch die anderen Apps wieder zurück kamen.

Und so war es dann nur für eine kurze Zeit besser, doch unter dem Strich änderte sich bei meinem Smartphone-Konsum nicht viel.

Versuch 4: Quality-Time

Quality Time

Über einen Zeitschriftenartikel bin ich auf die App “Quality-Time” gestossen.

Damit lässt sich der eigene Smartphone-Konsum gut analysieren: Wie oft greife ich zum Smartphone? Wieviel Zeit verbringe ich in welcher App?

Anfangs war das spannend. Und auch beschämend: “Oh, so viel Zeit wollte ich nicht auf Facebook verbringen, heute versuche ich das besser zu machen”. Es lassen sich auch Alarme konfigurieren.

Doch ausser einem schlechtes Gewissen entwickelte sich bei mir nichts. Denn Alarme kann man einfach wegklicken. Und nach ein paar Mal bleibt dann auch das schlechte Gewissen aus.

Im nächsten Beitrag

Nun, so viel dazu… Was ich eben beschrieben habe, ist so ziemlich alles, was mir das Internet und meine Freunde an Tipps bieten konnten. Und nichts davon hat funktioniert. Nicht mal ansatzweise. Ich war schon einigermassen verwundert.

Und doch fand ich keine Ruhe.

Im nächsten Beitrag meine darauffolgenden – etwas drastischeren – Versuche, welche endlich erste Anzeichen von Besserung zeigten.

Justin Rosenstein – Erfinder des Facebook-Like-Buttons – blockierte auf seinem Laptop Reddit und Snapchat und limitierte Facebook. Doch das genügte nicht. Schlussendlich kaufte er sich ein neues iPhone und beauftragte seine Sekretärin, ihm darauf eine Kindersicherung einzurichten, damit er keine Apps mehr installieren kann.

Leah Pearlman – ehemalige Team-Kollegin von Rosenstein – schloss sich per Browser-Plugin von ihrem Facebook-Newsfeed aus und stellte jemanden ein, der nun ihren Facebook-Feed beobachtet, so dass sie das nicht mehr selbst tun muss.

Es ist natürlich schön zu sehen, dass ich mit meinem Geständnis von letzter Woche nicht alleine bin. Oder auch beängstigend. Doch warum verhält es sich so? Wieso machen Smartphones so abhängig?

Der vermutlich beste Advokat gegen Smartphone-Sucht ist Tristan Harris, ehemaliger Produktmanager bei Google. Er hat bei Google ein Memo verfasst, das aufzeigt, wie Google-Apps unbeabsichtigt süchtig machen, und wie man das ändern könne. Denn immerhin hat Googles Android einen 50% Marktanteil. Er erreichte damit etwa 5’000 Google-Mitarbeiter und hatte damit eine interne Diskussion ausgelöst.

Die Bottom-Line: Smartphone-Apps bringen Nutzer dazu, Dinge zu tun, welche sie aus freien Stücken gar nicht bereit wären zu tun. Sprich: sie nutzen psychische Schwachstellen aus. Der Clou ist, dass der Nutzer das nicht merkt sondern denkt: “Quatsch! Schwachstellen! Ich doch nicht!”.

Hier drei der fünf Punkte aus seinem Memo – angereichert mit weiteren Facts aus seinem TEDx-Talk und einem ausgezeichneten Guardian-Artikel.

Schwachstelle 1: Zeitprognosen sind schwierig

Auch schon mal passiert? Du nimmst das Smartphone um etwas nachzuschauen. Oh. Eine Notification. Draufgeklickt und eine Viertelstunde später: »was wollte ich eigentlich ursprünglich tun?«.

Schwachstelle: die menschliche Psyche ist schlecht, die Dauer einer Handlung vorherzusehen. Insbesondere am Smartphone.
“Nur noch schnell…”. Mit dieser Phrase nimmt mich schon meine Frau hoch.

Wenn es im Voraus möglich wäre zu wissen, wieviel Zeit der Klick auf die Notification auffressen wird, würde ich mich vermutlich anders entscheiden. Doch genau diesen Schwachpunkt nutzen Apps mit Notifications aus, um den Nutzer “reinzusaugen” und “in der App zu behalten” (mehr dazu bei “Schwachstelle 3” unten).

Schwachstelle 2: Periodische Belohnungen machen süchtig

“Swipe-Down” etwas ehrlicher

Bei Langeweile oder bei Enttäuschungen oder bei Anstrengungen sucht das Hirn einen Ausweg: ein kurzer Snack! Vielleicht ist ein neues Mail reingekommen? Oder ein Tweet? Oder lass mich die News checken um zu sehen, was Trump jetzt schon wieder angestellt hat.

Und jetzt kommts: um neue Mails oder Tweets zu schecken, haben die Entwickler das “Swipe-Down” erfunden: Man streicht mit dem Finger von oben nach unten um zu sehen, ob was neues reingekommen ist. Die Ähnlichkeit zu einem Spielautomat (“Slot Machine” oder “Einarmiger Bandit”) ist verblüffend. Jedes Mal wenn man “zieht”, kommt was raus. Ein neues Mail, eine News, oder vielleicht nichts. Wie am Automat.

Loren Brichter, der dieses Feature erfunden hat (per Zufall, denn es gab einfach keinen Platz für einen “Refresh-Button”) meint dazu, er sei verwirrt, dass dieses Feature so lange überlebt habe. Denn Apps könnten auch gut ganz automatisch updaten. Aber auch Slot-Machines könnten automatisch spielen. Tun sie aber nicht.

Dazu Brichter:

Smartphones sind nützliche Tools, aber sie machen süchtig. Swipe-Down zum Refreshen macht süchtig. Twitter macht süchtig. Dies sind keine guten Dinge. Als ich daran arbeitete, war ich nicht genügend reif um darüber nachzudenken. Ich sage nicht, dass ich jetzt reif wäre, aber ein bisschen mehr schon, und ich bedaure die Kehrseite dieser Medaille.

Schwachstelle: die menschliche Psyche verlangt nach Linderung bei Langeweile, Enttäuschungen, Anstrengnungen, etc. Und wenn man sich daran gewöhnt hat, dieses Bedürfnis mit dem Smartphone zu befriedigen, so vertiefen sich diese neurologischen Pfade, so dass dieser Reflex immer stärker wird. »Dies sind die gleichen neurologischen Schaltkreise, welche Menschen dazu veranlasst, nach Essen, Komfort, Wärme oder Sex zu streben« meint Chris Marcellino, ehemaliger Apple-Engineer und nun Neurochirurgist.

Schwachstelle 3: Der Weg des geringsten Widerstandes

Hat es eine App geschafft, einen Nutzer zu triggern, so versucht sie ihn dann möglichst lange zu halten. Bei Youtube kommt das nächste Video automatisch. Bei Netflix auch. Bei Facebook kommen kontroverse Beiträge zuoberst, denn dies behält den Nutzer erwiesenermassen länger in der App.

Doch wie kommen die Apps zu diesen Kniffs? Sind das gezielte psychologische Manipulationen?

Nein. Im Software-Engineering gibt’s ein Konzept das heisst A/B-Testing: Ein neues Feature – z.B. ein neuer Sortier-Algorithmus bei Facebook – zeigt man erst mal einer Test-Gruppe A, die Gruppe B merkt noch nichts davon. Und nun vergleicht man, welche Gruppe besser abschneidet. Apps wie Facebook und Youtube optimieren auf möglichst lange Verweildauer. Und so kommt es, dass ein Entwickler-Team plötzlich über ein Feature stolpert, das die Performance signifikant erhöht. Und “zufällig” spricht das genau eine Schwachstelle der menschlichen Psyche an.

Und da das Internet eine “Schlacht um die Nutzer-Aufmerksamkeit” ist, müssen die anderen Apps nachziehen: Nachdem Youtube das Autoplay eingeführt hat, ist auch Facebook nachgezogen. Sonst ist man ziemlich schnell weg vom Fenster.

Schwachstelle: die menschliche Psyche funktioniert nach “Reflexen” (vergleiche schnelles Denken im “schnelles Denken, langsames Denken”). Spricht eine App diese Reflexe an, kommt der Mensch nicht mehr dazu, zu reflektieren und aus der App auszusteigen (“wie lange will ich hier eigentlich noch weiterschauen?”) und bleibt im Sog der App gefangen.

Wie reagierte Google auf das Memo?

Soviel zum Inhalt des Memos von Tristan Harris. Das Echo darauf war bei Google positiv: Bis in die Chefetagen fanden die Argumente Gehör. Harris wurde zum “Design-Ethiker” befördert. Das Problem war, dass er da keine Entscheidungsgewalt hatte und nur weiter vor sich hin grübeln konnte. Sprich, die Sache ist im Sand verlaufen.

Denn – und nun kommt der wichtigste Gedanke dieses Beitrags –

Google ist Werbefinanziert.

Je mehr Werbung Google anzeigen kann, desto mehr Geld verdient sie.

Sprich je häufiger und je länger Nutzer auf der App sind, desto mehr Geld.

Und Google ist Börsen-Kotiert. Und die Aktionäre wollen Geld. Da kann man lange lieb sein wollen mit dem Nutzer. Schlussendlich macht man die App, welche am meisten Geld reinbringt.

Google und Facebook verdienen mächtig viel Geld. In der Liste der wertvollsten Firmen der Welt (nach Marktwert) ist Google auf Platz 3 und Facebook auf Platz 5.

Wird sich etwas ändern?

Als Tristan Harris merkte, dass sich bei Google nichts ändern wird, hat er gekündigt und die Organisation “Time Well Spent” ins Leben gerufen. Damit versucht er, an Firmen wie Facebook zu appellieren sowie den Nutzer aufzuklären.

Harris meint:

Ich glaube, dass sich etwas ändern wird – die Frage ist nur: woher kommt der Wandel?

Und verweist darauf, dass auch die Bio-Lebensmittel mit kleinen Produzenten angefangen haben.

Doch ich erwarte von solchen Initiativen eher wenig. Denn diese Mechanismen sind Markt-Getrieben und das Business-Modell von News und Social Media ist nunmal Online-Werbung. Und dass sie sich von diesem Business-Modell verabschieden ist sehr unrealistisch. Oder kann sich jemand vorstellen, für Facebook oder Youtube Geld zu zahlen?

Was für mich bleibt ist persönlich Verantwortung anzunehmen.

Was bleibt, ist zuzugeben, dass ich anfällig bin auf Smartphone-Sucht. Dass ich nicht so handle, wie ich eigentlich will.

Persönlich fing ich an, Schritte zu gehen. Und nicht nur ich für mich, sondern auch für meine Kinder. Dazu nun – wie letztes mal versprochen – einige Beiträge ab nächster Woche.

 
 


 

Weiterführende Artikel

Wen es interessiert, mehr über dieses Thema zu lesen: Bester “Primer” für dieses Thema finde ich den Guardian Artikel: “Our minds can be hijacked”. Des weiteren kann ich diese Autoren empfehlen:

__Tristan Harris__: Ex-Google-Employee, jetzt Initiator von "Time Well Spent". Fragt sich (wie ich auch), wieso dieses Thema nicht die Titelseiten von allen Magazinen füllt. Lohnenswert sind sein [TED-Talk](https://www.ted.com/talks/tristan_harris_the_manipulative_tricks_tech_companies_use_to_capture_your_attention) wie auch seine [Posts und Notizen auf Medium](https://medium.com/@tristanharris)  __Anitra Eggler__: Journalistin und Rednerin. Setzt sich im deutschsprachigen Raum für "weniger digitalen Stress ein". Auf ihrer (etwas wirren…) [Homepage](http://www.anitra-eggler.com/) finden sich Artikel und Videos
__Dr. Natasha Schüll__: Kulturanthropologin und Dozentin für Medien, Kultur und Kommunikation. Ihr Buch: [Addiction By Design: Machine Gambling in Las Vegas](https://press.princeton.edu/titles/9156.html) (bin ich gerade am lesen) beschreibt die Spielsucht an Spielautomaten. Der Vergleich zu Smartphones ist geradezu frappierend. Das macht es zum vermutlich besten psychologischen Grundlagenbuch zur Smartphone-Sucht. __Roger McNamee__: Venture Capitalist. Arbeitet mit Tristan Harris an "Time Well Spent". Hat einige [spannende Artikel auf The Guardian](https://www.theguardian.com/profile/roger-mcnamee). z.B. diesen: [Why not regulate social media like tobacco or alcohol?](https://www.theguardian.com/media/2018/jan/29/social-media-tobacco-facebook-google).

Vor ein paar Jahren sass ich mit meinen beiden Kindern (damals 8 und 5 Jahre) beim Brettspiel. Plötzlich fing eines der Kinder an, unter dem Tisch wie wild auf einem alten Handy rumzudrücken.

Ich: »Was in aller Welt machst Du da unter dem Tisch mit meinem alten, kaputten Handy?«
Antwort: »Ich spiele Papi!«

Spätestens da wusste ich: Ich habe ein Problem mit Smartphones.

Bis dahin dachte ich: Smartphone-Sucht ist ein Problem der anderen Leute.

Einmal im Zug konnten wir beinahe nicht aussteigen, weil der vorderste Mann bei der Türe zu sehr mit seinem Handy beschäftigt war um zu merken, dass der Zug längst angehalten hatte und er den Türknopf hätte drücken sollen. Einmal ertappte ich unsere Babysitterin dabei, wie sie Notifications gecheckt hat, um die tote Zeit beim Treppensteigen zu überbrücken (es war nur ein Stock!). Und dann all die Meldungen aus den Zeitungen: Vor Konzerten werden Handys eingsammelt, weil sonst niemand zuhört sondern nur filmt. Bei Rettungsarbeiten stehen Handy-Fotografierer im Weg.

Also bildete ich mir ein, das sei ein “other people’s problem”. Doch da half mir meine Familie zur besseren Einsicht: Nicht nur meine Kinder meinten, ich hätte ein Problem (»Papi, du hast gesagt, du kommst!«), sondern auch meine Frau. Die meiste Zeit über war ich nicht wirklich anwesend.

Wie es soweit kam

Lasst mich mal eine – ziemlich schüchterne – These aufstellen: Wirkliche Probleme mit Smartphones haben Leute, welche…

a) mit Smartphones aufgewachsen sind
b) von Smartphone-besessenen Leuten umgeben sind

Kurzer Check: meine Eltern haben wohl Smartphones, auf die trifft aber weder a) noch b) zu. Wenn ich bei ihnen auf Besuch bin, checken sie nie Notifications auf ihrem Handy. Lasst uns diese These als bewiesen betrachten.

Ich, an meinem 486er, ca. 1999

Nun zu mir: Nein, ich bin nicht mit Smartphones aufgewachsen. Aber mit Computern. Und zwar mit einer ziemlich zünftigen Dosis.

Mit 14 Jahren (1991) kaufte mein Vater unseren ersten Computer. Sofort fing ich an darauf zu gamen und - was mich weit mehr packte - zu programmieren. Dann kaufte ich mir mit 17 Jahren meinen eigenen Computer, mit 19 Jahren (1996) hatte ich meinen ersten Internetzugang (meine Eltern verstanden noch nicht, was ich überhaupt mit der Telefonleitung anstellte).

Ab dann begann ich immer mehr über elektronischen Weg zu kommunizieren. Zuerst über Foren, dann per Mail. Ich war praktisch meine gesamte freie Zeit am Computer. Als ich einmal meinen Computer für 1 Woche zur Reparatur schicken musste, wusste ich nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte (also hängte ich mich vor den Fernseher…).

Somit wäre a) abgehakt, kommen wir zu b), meinem Smartphone-getränkten Umfeld:

Ich, 2. v.l., 2008, beim Abgeben des Armee-Materials, stand ich mit meinem Smartphone-Konsum noch ziemlich allein

Mit 20 Jahren drängten mich meine Freunde ein Handy zu kaufen, damit ich endlich auch immer und überall erreichbar sein könne (remember: damals trugen die meisten ihr Handy noch am Gürtel - schauder!). Auch einen Palm Pilot habe ich mir zugetan, weil… ja, die meisten meiner Freunde hatten einen.

Nach weiteren Handys kaufte ich dann 2007 das erste iPhone. Damals hatte ich eben meine Arbeitsstelle bei der Internet-Plattform local.ch angefangen und alle (ja, alle!) meine Arbeitskollegen kauften sich auch so ein Ding.

Ich installierte Twitter, Facebook, Skype und Mail. Jede Nachricht las und beantwortete ich innerhalb von Minuten. Und das frass immer mehr meiner Aufmerksamkeit weg, was vor allem die Familie zu spüren kriegte. Und es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Also musste ich etwas tun.

Und was ich dagegen versucht habe zu tun, was funktionierte und was nicht: Dazu im nächsten Beitrag…

Obwohl: Halt, zuvor noch etwas Theorie um den Smartphone-Konsum. Denn Thesen aufstellen ohne Quellen-Angaben usw. bringe ich als Engineer nicht recht übers Herz…

Eigentlich wollte ich vor 2½ Jahren nicht aufhören zu schreiben.

Doch dann war eine Stelle bei Google ausgeschrieben, die so gut passte; ich musste mich einfach darauf bewerben. Bei Google bewerben ist spannend, aber auch sehr zeitintensiv. Drei Monate und drei Bewerbungsrunden später erhielt ich die Absage. Ich könne mich ja ein Jahr später nochmals bewerben. Dieselbe Stelle wäre dann wieder verfügbar. War sie aber nicht. Auch nach 1½ Jahren…

Zeitgleich kamen in meiner Familie Themen an die Oberfläche, welche schon lange schlummerten. Themen, bei denen ich merkte: die lassen sich nicht nebenbei lösen; da muss Einiges auf Eis gelegt werden, um diesem Einen die volle Aufmerksamkeit zu widmen; es braucht sozusagen ein Teil-Sabbatical.
Ohne gross ins Detail zu gehen: Gott hat uns – durch ausserordentlich geschickt orchestrierte Hilfe – die exakt richtigen Menschen, Bücher und Gespräche organisiert. Wir haben enorm viel gelernt und wurden gestärkt.

Dann – oh, es kam einiges zusammen – waren da Issues in der Gemeinde. Es gibt immer Issues. Und es ist oft nicht klar: Sollen wir die Gemeinde wechseln? Oder würden wir mit einem Wechsel bloss Verantwortung ausweichen? Suchen wir gerade den Weg des geringsten Widerstandes, ohne zu merken, dass Gott uns durch diese Bedrängnis formen will?

Doch es gibt Umstände, wo man dann doch gehen muss. Und durch viel Gebet kamen wir zum Schluss, dass das gerade so ein Umstand war. Wir wechselten darauf in eine Chrischona-Gemeinde an unserem Wohnort.

Und dann geriet ich bei meiner Arbeitstelle in eine Rolle, wo ich viel zu viel arbeiten musste, und obwohl mein Körper klare Signale gegeben hatte, fand ich keinen Weg, meine Arbeit zu reduzieren. Ich habe dann ziemlich Hals-über-Kopf eine neue Stelle gesucht, und beim Immobilien-Portal Homegate.ch eine neue Stelle gefunden, die sehr gut passt, und die ich im Frühling dieses Jahres antreten konnte.

Kurz: es war einfach nicht Zeit zu Bloggen.

Aber jetzt, so Gott will, ist wieder Zeit zu Bloggen.

Neue Themen braucht der Blog

Der Drang zum Schreiben, der meldete sich wieder. Gleichzeitig war mir klar: so weiter wie bisher wollte ich nicht machen.

Denn was ich ursprünglich wollte mit diesem Blog war Leute aus meiner Gemeinde ansprechen. Oder meinen Freundeskreis.

Was dann tatsächlich passierte: Der Blog sprach Leute an (schloss sogar Online-Freundschaften), aber ausschliesslich Theologen respektive theologisch Interessierte.

Darum werde ich versuchen, über alltäglichere Themen zu schreiben, wie:

  • Umgang mit Smartphone (als Software-Entwickler und Smartphone-Nutzer der ersten Stunde liegt mir das Thema nahe)
  • Besitz: in den Evangelien ist Besitz eines der grossen Themen. Das [lässt mir keine Ruhe](“Wieso gedeiht Glaube im Gefängnis besser als im Wohlstand”). Und ich höre und lese über dieses Thema viel zu wenig, darum würde ich gerne etwas Abhilfe schaffen
  • Konsum und Nachhaltigkeit: Ein weiteres Thema, das unter Christen meiner Meinung viel zu kurz kommt

All dies ist super langweilig, wenn theoretisch vorgetragen. Darum wird das Ganze sehr persönlich.

Und: Ja, das sind per se keine Christliche Themen. Aber diese Themen – wenn sie vom Evangelium durchtränkt sind – leuchten in einem ganz neuen Licht. So wie Salz: man isst es nicht löffelweise, sondern mischt es unter die Speise, ohne die das Essen ungeniessbar wäre.

Kurz: es gibt viel Neues. Bin gepannt, wie das neue Format funktioniert, nächste Woche erscheint der erste neue Beitrag.

Beim Lesen von Orthodoxie ist mir aufgefallen, wie bildhaft Chestertons Sprache ist. Es kam mir so vor, als wollte er eigentlich ein Bilderbuch schaffen, doch dann fehlte ihm die Musse, dies auszuführen.

Ich suchte also die griffigsten Zitate raus, suchte passende Bilder dazu und versah die Zitate mit Erklärungen (da einige Zitate ohne Zusammenhang nicht ganz verständlich sind). Ursprünglich sind diese (und weitere 14) Bilder auf einer Facebook-Page erschienen, doch da kamen sie nicht richtig zur Geltung, darum habe ich sie alle in ein quadratisches Format gebracht und hier nochmals publiziert:

Chestertons Orthodoxie als Bilderbuch

Update: Hier gibt’s das Bilderbuch auch als PDF.

Birgit Kelle

Die Diskussionen über Gender, Familie, Homosexualität etc. sind ja im höchsten Grade verfahren, die Argumente alle gehört, beide Seiten bewegen sich keinen Millimeter von ihrem Standpunkt.

In dieser Situation kann man sich einfach genervt ausklinken. Es gibt aber auch eine Alternative: Birgit Kelles Kolumnen sowie ihr Buch “Dann mach doch die Bluse zu: Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn”, das ich gerade gelesen habe.

Obwohl (oder gerade weil) Kelle nicht aus der christlichen Ecke argumentiert, sind ihre Texte bissig, ehrlich, ungezwungen, voll von gesundem Menschenverstand und smart.

Und das braucht’s. Denn das Thema ist zum Teil rabenschwarz. Beim Durchlesen ihres Buches hatte ich einige Male gestockt und gedacht: »oh the humanity«, was wird aus der Rasse Mensch noch werden? Vor allem wenn es um Gender-Mainstreaming oder Abtreibungen geht, bekroch mich ein kaltes Gruseln ob dem Gedanken, wohin das alles noch führt.

Doch genau deshalb braucht es einen Schuss Zynismus gemischt mit einer Brise gesunder Menschenverstand, wo man dem Gegner recht geben muss und wo nicht.

Hier drei der unterhaltsamsten Zitate aus dem Buch:

Über Frauenquoten:

Kollektiven Atemstillstand und Hysterie löst es jedes Mal aus, wenn ich in einer Diskussionrunde über Fauenquoten die These aufstelle, dass gar nicht alle Frauen in einen Vorstand wollen und möglicherweise deswegen so wenige dort ankommen. Sie wollen nicht?!? Das ist ein feministisches No-Go. Alle haben zu wollen… Man weiß doch, was Frau will. Diskussion abgeschlossen. Ist doch alles schon gesagt worden von den Vorkämpferinnen der Frauensache a la Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer, Bascha Mika, Elisabeth Badinter und wie sie alle heißen.
Sie meinen es wirklich sehr gut mit uns Frauen. Und damit wir nicht auf die Idee kommen, selbst darüber nachzudenken, haben sie schon einmal für uns mitgedacht. Es ist im Übrigen auch der einzige Weg, um das Frauenkollektiv nicht zu gefährden. Denn wenn alle Frauen über ihr Dasein nachdenken, über die Frage, was sie wollen oder gar, was sie glücklich macht, könnten natürlich völlig unterschiedliche Meinungen dabei herauskommen.

Über Kitas:

Ich bin kein Brutkasten, ich bin Mutter, ich werde es immer sein, bis zu meinem letzten Atemzug. Weil ich nicht Kinder bekommen habe für Deutschland… Weil ich nicht müde werde, jeden Abend die gleiche Lieblingsgeschichte von Bäcker Olsen vorzulesen. Weil ich über jeden hundertfach erzählten Häschen-Witz immer noch lachen kann. Einfach, weil es meinem Kind Freude bereitet. Weil es mich begeistert, wenn mein Kind Dinge wie Humor oder gar Ironie begriffen hat. Was für eine intellektuelle Meisterleistung! Ich vergöttere unsere Kinder, und ich halte sie für die schönsten und klügsten auf der ganzen Welt, so, wie nahezu alle Eltern es tun. Ich bin froh, dass das erste Wort meiner Kinder „Mama“ war und nicht “Sabine aus der Kita”.

Über Gender-Mainstreaming:

Die Gender-Theorien arbeiten nicht auf eine rechtliche oder gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau hin, sondern fordern ein komplettes Aufweichen der Kategorie Geschlecht – denn nur damit sei angeblich die Ungleichheit der Geschlechter zu überwinden. Ganz nach der Theorie von Marx und Engels, wonach der Beginn der ersten Arbeitsaufteilung und somit der Beginn jeder weiteren ökonomischen und kulturellen Klassenteilung seinen Ursprung in der natürlichen Unterschiedlichkeit von Mann und Frau findet. Deswegen genügt es nicht einfach, die Privilegien des Mannes zu beseitigen, was mit Gleichstellungspolitik ausreichend bewerkstelligt werden könnte. Nein, man muss die Geschlechtsunterschiede komplett beseitigen.

Also Gleichmacherei statt Gleichberechtigung.

Die Natur ist dabei das rote Tuch im Kampf um die Auflösung des Geschlechts. Sie zieht einfach nicht mit, ist störrisch, unbeirrbar und pflanzt sich immer noch weiter zwischen Männern und Frauen fort.

Meine Empfehlung

Lest es, auch die Männer. Für unterhaltsame Aufklärung über die Feminismus-Themen und für einen bunten Strauss an Argumenten, wenn es beim nächsten Café an der Arbeit plötzlich um Frauenthemen geht.

Ein Gott, der straft und tötet? von Bernd Janowski

Beim Lesen des Alten Testaments komme ich immer mal wieder ins Stocken: “Wieso musste Ussa sterben, als er die Bundeslade vor dem Runterfallen bewahrte? Wieso, Gott, wieso?”.

Jeder, der sich ernsthaft mit dem Alten Testament auseinandersetzt, kommt irgendwann auf diese Fragen. Manche geben das AT einfach auf, und beschränken sich aufs Neue. Das war für mich aber keine Option. Es muss doch möglich sein, dass ich das Alte Testament als Gesamtes, mit all den schwer zu verstehenden Details gewinnbringend lesen kann!

Als dann noch jemand in der Gemeinde mit ähnlichen Fragen zu mir kam und ich keine rechte Antwort darauf geben konnte, liess ich mir von Dave Jäggi das Buch “Ein Gott, der straft und tötet?“ empfehlen.

Welche Fragen beantwortet das Buch? Welche nicht?

Zunächst zum Autor: Bernd Janowski ist Professor für Altes Testament in Tübingen. Er weiss also, wovon er spricht. Das Buch ist aber auch für Nicht-Theologen wie mich gut verständlich.

Der Kern des Buches ist die Widerlegung der Theorie, dass das Neue Testament einen anderen Gott verkünde wie das Alte. Markion hat diese Theologie begründet und die Folge dessen sind relativ gut in unserer Kultur zu spüren. Aus dem Vorwort:

Während sich die einen ein Christentum ohne Altes Testament nicht vorstellen können, möchten die anderen es am liebsten aus der christlichen Bibel verbannen - vielleicht bis auf die Psalter, der zusammen mit dem Neuen Testament auf vielen Hotelzimmern als Nachttischlektüre bereitliegt.

Die Auflösung dieses Konflikts “Rache-Gott des Alten Testaments” vs. “Liebender Gott des Neuen Testaments”, das ist das Ziel des Buches und das gelingt Janowski gut.

Trotzdem blieben auch nach dem Buch bei mir einige Fragen offen, insbesondere die Auslöschung ganzer Städte (inkl. Frauen und Kinder) im Buch Josua und Richter. Weiter: Ein ganzes Kapitel lang beleuchtet Janowski die Aufforderung zum Opfern von Isaak, dabei schafft er es aber nicht, wesentlich mehr zu erklären, als dass Gott von Abraham einen “blinden Gehorsam” forderte.

Doch im Grossen und Ganzen kann ich das Buch sehr empfehlen: Janowski bleibt der Bibel treu - ist zwar historisch-kritisch, aber sicher nicht liberal. Für mich war es das erste Buch über das Alte Testament, und zu einem “Einstieg ins Alte Testament” hat es mir einen wertvollen Dienst getan.

Einige wertvolle Einsichten aus dem Buch will ich Euch nicht vorenthalten:

Feindes-Psalmen: Was machen wir mit »Selig, wer deine Kinder packt und sie am Felsen zerschlägt«?

Treffend sagt Bonhoeffer:

(Wer die Psalmen betet) versucht zunächst, sie persönlich als sein eigenes Gebet nachzusprechen. Bald stößt er dabei auf Stellen, die er von sich aus … nicht glaubt, beten zu können. Wir denken etwa an die Unschulds­psalmen, an die Rache­psalmen, teilweise auch an die Leidens­psalmen. Dennoch sind diese Gebete Worte der Heiligen Schrift, die er als gläubiger Christ nicht mit billigen Ausreden als überholt, veraltet, als ›religiöse Vorstufe‹ abtun kann.

Bei den Ufern von Babylon

Ja, was soll man z.B. mit Ps. 137,9 machen, wo steht, »Selig, wer deine Kinder packt und sie am Felsen zerschlägt!«

Janowski hat ein paar Anhaltspunkte:

Erstens: Einiges ist nicht wörtlich gemeint. Gerade Ps. 137,9 ist vermutlich nicht wörtlich zu nehmen, denn zuvor wird von ›Mutter Babylon‹ geredet, wo ja “Mutter” auch nicht wörtlich gemeint ist. Ein Zitat aus Keels Bildsymbolik:

Man könnte [Ps. 137,9] also sinngemäss übersetzen: ›Selig, wer deiner sich stets erneuernden Herrschaft ein Ende bereitet!‹. So würde der Satz vermutlich niemanden verletzen, obgleich er ebenfalls einen brutalen Vorgang herbeiwünscht. Seine Brutalität wird aber durch den weiten Mantel der abstrakten Formulierung verhüllt. (S. 178)

Zweitens: Anderes ist ein Verarbeiten von schwierigen Erlebnissen: Gerade David hat, statt sich an seinen Feinden (Saul, Absalom, Achitophel etc.) zu rächen, bei Gott Zuflucht gesucht um die enormen Angriffe zu verarbeiten:

[Davids] Psalmen sind deshalb nicht, wie immer wieder unterstellt wurde, auf Verfolgungswahn oder maßlose Übertreibungen zurückzuführen, sondern sind das Resultat einer bestimmten Erlebnisweise … die Klage ist nun seine einzige Waffe, um mit der Unfasslichkeit des Bösen ›fertig‹ zu werden. (S. 185)

Diese Überlegung ermutigt mich dazu, in meinen Gebeten noch ehrlicher zu sein und meinen Emotionen mehr Raum zu geben. Gott verspricht, dass er mich nicht ins Bodenlose fallen lässt, sondern mich emotional wieder auf festen Grund stellen wird, so wie er das auch bei David getan hat. Meine Beobachtung ist, dass viele Christen diesen Schritt der Klage überspringen und gleich damit anfangen, Gott zu preisen, wo sie ja doch gerade etwas sehr Schweres erlebt haben. Das Alte Testament hat mit den Psalmen wie auch mit den Klageliedern lange Teile der Klage, welche uns dienen können, unsere Klage-Emotionen zu formulieren.

Drittens: Der Psalmist überlässt die Rache Gott, deshalb fordert er Gott auch dazu auf (siehe 5. Mose 32,35: »Mein ist die Rache und die Vergeltung«). Ein Zitat von Fuchs (aus: Herausforderungen Israels):

Der Rachewunsch des Subjekts kommt in solchem Gebet immerhin so weit, dass er … selbst nicht zum Täter wird, sondern Gott das Recht der Bestrafung zuschreibt und damit auf die … Ausübung … verzichtet. Ich will hier nicht derartige Gebete als eine besondere Hochform der Spiritualität hochstilisieren, wohl aber deutlich werden lassen, wie sich biblische Spiritualität auch in die Niederungen der sündigen Menschen zu begeben vermag, und dort das Schlimmste verhindert: Indem sie vorübergehend (weil es nicht anders geht) mit seiner sündigen Natur den ›Kompromiss‹ eingeht, die Vernichtungswünsche einerseits aussprechen zu lassen, sie aber andererseits einem anderen Akteur zu überantworten. … Im Moment der Wut [passiert] nicht das Schlimmste [Anm: das Schlimmste wäre die Rachegedanken in Tat umzusetzen], dafür sind solche Gebete nicht nur gut, sondern bitter notwendig! (S. 200)

Hiob – Oder wieso eine Reduktion Gottes auf “Gott ist Liebe” in einer Welt voller Leid zum Atheismus führt

Hiob, Léon Bonnat (1880)

Aus G. Büchner, Dantons Tod, 3. Akt:

Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen … ›Warum leide ich?‹ Das ist der Fels des Atheismus. (S. 205)

Warum lässt Gott das Leid zu? Das ist eine der ältesten Fragen der Welt. Und sie ist gut. Auch meine Kinder fragen mich immer mal wieder: “Wieso vernichtet Jesus Satan nicht einfach?“ Wenn wir der Theologie Markions Recht geben würden, dann liesse sich diese Frage schlicht nicht beantworten. Denn wenn Gott bloss ein Gott der Liebe ist (1. Joh 4,16), wie lässt sich dann das Leid erklären? Und schon ist dem Atheismus Tür und Tor geöffnet. Aber gerade das Alte Testament, und insbesondere Hiob, beleuchtet diese “dunklen Seiten” des Lebens gut. Denn Hiob verfällt nicht dem Atheismus, nach seinem Leiden ist sein Glauben an Gott sogar gestärkt.

Wieso verfällt Hiob nicht in einen Atheismus (ganz im Gegensatz zu seiner Frau)?

[Weil] Hiob dadurch sein Gegenüber verlieren würde – auch wenn dieses Gegenüber, nämlich Gott, sich ihm gegenüber (noch) verbirgt. … Hiob versucht eine Beziehung mit Gott zu erreichen, ohne seine Integrität preiszugeben – das ist das große Rätsel, aber auch das große Geschenk des Hiobbuchs. (S. 218)

Oder anders gesagt: Hiob verzweifelt immer mehr, da er keinen Ausweg findet: er will einerseits seinen “Freunden” nicht recht geben, weil er weiss, daß ihre Vorwürfe unwahr sind. Andererseits will er Gott nicht absagen. So hält er diese Spannung so lange aus, bis Gott endlich antwortet.

Doch - und das hat mich am Buch Hiob immer fasziniert - Gott beantwortet nicht Hiobs Frage! Er lässt die Frage nach “wieso leide ich?” offen! Seine Antwort läuft auf etwas ganz Anderes hinaus. Janowski dazu:

Hiob nimmt Abschied von der Vorstellung, an seinem Schicksal bemesse sich der Lauf der Welt. [Anm: Hiob hört auf zu fragen: “Warum leide ich?”]. Das ist nicht die Folge einer Änderung seiner äußeren Situation - er sitzt ja noch immer noch auf Staub und Asche - … sondern weil er jetzt alles neu und anders sieht… Das ist der Fortschritt vom Gotteszweifel zur Gottesfurcht und diese bewährt sich in rückhaltloser Offenheit für Gott. (S. 227)

Das ist ganz wesentlich! Gott bringt ihm von der “Wieso leide ich?”-Frage ab, indem er Hiob Gottesfurcht beibringt. Was Hiob im ganzen Prozess vorbildlich macht, ist, dass er nicht einknickt und resigniert, unnachgiebig bringt er bei Gott seine Klagen an, in der Hoffnung, dass Gott irgendwann darauf antwortet:

Hiob ist rückhaltlos »aufrichtig« gegenüber Gott, gerade indem er ihn anklagt und zum Dialog herausfordert.

Diesbezüglich ist Hiob den Psalmen sehr ähnlich: Hiob fürchtet sich nicht davor, ehrlich mit Gott zu sprechen.

Die noch grössere Frage als “Wieso gibt es Leid?”

Ist die Frage “Warum gibt es Leid auf der Welt” wirklich die grösste Frage? Ravi Zacharias behauptet “Nein”! Ein Zitat:

Als Apologet werde ich immer wieder auf die “emotionalste aller Fragen” angesprochen, nämlich wieso Gott Leid zulässt. Glauben Sie mir, dies ist einfacher zu beantworten als das Folgende: Chesterton sagt: »Bedeutungslosigkeit kommt nicht daher, dass dich Leid müde macht. Bedeutungslosigkeit kommt daher, dass dich das Vergnügen müde macht«.
Also ist es das gottlose Vergnügen, jenes Vergnügen ausserhalb der heiligen Grenzen, das Sie schlussendlich leer zurücklässt. Dies lässt sich in der Bibel beobachten, es lässt sich aber auch im Leben beobachten: Die Einsamen findet man bei den reichsten, berühmtesten Menschen, bei denen die keine Grenzen für ihr Vergnügen kennen.
(Aus “An Evening with Ravi Zacharias, Dennis Prager, Jeff Foxworthy”, Originalzitat)

Die Frage war “was ist die grösste Lüge der Menschheit?“ Und Ravi Zacharias’ Antwort: “der Glaube, dass man in gottlosem Vergnügen Erfüllung findet”. Das beschreibt ziemlich genau, was Sünde ist. Und das Alte Testament ist sozusagen die Geschichte der Sünde: wie sie bei Adam ihren Anfang nahm und sich dann ausbreitete, sodass die Menschheit schlechter und schlechter wurde, bis es zur Sintflut kam.

Janowski stellt die Frage: “Wieso sündigt der Mensch eigentlich?“ Und kommt zu folgender Antwort: “weil es ihm recht erscheint”. Es geht dem Menschen nicht darum, absichtlich Unrecht zu tun. Alles, was er will ist, sein Recht einzufordern mit einer Tat. Was der Sünder dabei übersieht, ist, dass er ein völlig verdrehtes Verständnis hat, was recht ist und was nicht. Angefangen hat dies damit, dass Adam dachte “es steht mir zu, vom Baum zu essen” weiter zu den Vergeltungsmorden (“die Rache steht mir zu”) etc.

Die Stelle des Leibes, wo der Sünder das Maß des Menschlichen verliert, sind seine Augen… die Fenster des Menschen zur Welt sind keine Fenster mehr. Das Instrument, mit dem Wirklichkeit wahrgenommen und akzeptiert werden sollte, funktioniert nicht mehr. Denn vor den Augen müsste … Gottes Schrecken ansichtig werden … Er hat Augen, die nicht fähig sind, die eigene Verkehrtheit aufzudecken und zu hassen (S. 240)

Ist das Urteilungsvermögen (die Augen) erst einmal verfärbt (und das ist bei jedem Menschen der Fall), so dünkt es ihn, als dass er im Recht ist. Weil sein Handeln genügt seinem eigenen Massstab. Nie und nimmer wird er sich von seinem Standpunkt abbringen lassen, wieso auch? Daher muss die Sündenerkenntnis auch “von innen kommen”, nämlich durch die Überführung durch den Heiligen Geist:

Was [der Sünder] dabei erkennt, nämlich seine eigene Sündhaftigkeit, ist schwerwiegend. Sie kommt aus einer rätselhaften Tiefe seiner menschlichen Existenz (S. 256)

Ist den Opfergesetzen etwas abzugewinnen? Opfer waren doch schon im Alten Testament überholt

Hohepriester opfert eine Ziege, Henry Davenport Nothrop

Die Opfergesetze des Alten Testaments lassen es ziemlich “alt” aussehen, denn, ähm, Tieropfer, das macht man seit 2000 Jahren nicht mehr, nicht mal die Juden:

[Viele Theologen bezeichnen] das Opfer als eine »schockierende Absurdität« bz. »nackten Unsinn«, als »Abgrund des Blödsinns« (S. 263)

Ich hätte es wohl nicht zugegeben, aber insgeheim dachte ich genau so über die Opfer und all die Opfergesetze, und das Lesen der langen Passagen über Opfergesetze (2. bis 5. Mose) wurde zur Qual. Wieso genau steht das hier? Wieso so ausführlich? Hätte man beim Einbruch des Neuen Testamentes nicht einfach rausstreichen können?

Von Janowskis Buch erhoffte ich mir eigentlich eine Erklärung der verschiedenen Opferarten, doch so ins Detail ging er dann nicht. Er unterschied lediglich zwischen…

  • Opfer, welche die Schuld sühnen. In diese Kategorie fällt das Brandopfer (ganzes Tier wird verbrannt) oder der Bock, dem die Sünden auf den Kopf gelegt werden und der dann in die Wüste läuft (Sündenbock)
  • Opfer, welche die Gemeinschaft mit Gott wiederherstellen: In diese Kategorie fallen die Schlachtopfer bei den jüdischen Festen. Das Tier wurde zubereitet und dann von den Israeliten gegessen als Gemeinschaftsmahl mit Gott.

Janowski betont vor allem die zweite Bedeutung, welche unter Christen recht in den Hintergrund geraten ist:

Wenn Gott anlässlich eines Opfers kommt, dann nicht in Feindseligkeit, sodass man ihn - wie immer wieder behauptet wird - gnädig stimmen müsste, sondern um die Gastfreundschaft seines Volkes anzunehmen und um es zu segnen. (S. 271)

Diese Unterscheidung hilft bestimmt, wenn ich das nächste Mal durch 2. bis 5. Mose lesen werde. Ich hatte aber noch einen weiteren Vorbehalt gegenüber Opfern: Waren sie nicht schon im AT überholt? In Hosea 6,6 steht doch “Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer”!? Janowski dazu:

Immer wieder ist im Zusammenhang mit der prophetischen Opfer- und Kultkritik von der »Überwindung« oder dem »Ende« des Opfers die Rede. Hält man sich an die Texte, kommen allerdings andere Aspekte zum Vorschein. Sie hängen damit zusammen, dass die Krise, um die es in solchen Texten geht, »keine Krise des Kultes, sondern der Gesellschaft ist« (S. 271)

Janowski beleuchtet einige dieser Bibelstellen und kommt zum Schluss:

der Gottesdienst [Anm: die Opferzeremonien, die jüdischen Feste] erreicht Gott nicht mehr und ist insofern zum ›Dienst an sich selber‹ pervertiert… Israel feiert seinen Gott, als ob sein Gottesverhältnis intakt wäre und merkt nicht, dass [Gott] bei der Feier gar nicht anwesend ist. (S. 273)

Anders gesagt: Gott hat im Alten Testament die Opfer selbst nie infrage gestellt. Seine Anklage war gegen Israel, wenn sie die Opfer mit Murren darbrachten, im Sinne von “ach, jetzt muss ich schon wieder Opfer bringen, was tut denn eigentlich Gott für mich?” (Micha 6).

Die beste Zusammenfassung von was Gott beim Opfer forderte findet sich in Ps. 50,14a:

Opfere Gott Dank.

Vor gut einem Jahr erwischte mich die liberale Theologie auf falschem Fuss: Der Versuch, die Bibel anhand “ausserbiblischen Texten” zu überprüfen schien fair. Was mich völlig verwirrte war, dass wenn man die Bibel reduziert auf nur das, was auch ausserhalb der Bibel aufgezeichnet wurde, dass sich die Bibel zersetzt und zu einem Märchen verkommt, denn: Fast keine der biblischen Geschichten lässt sich historisch beweisen. In meinem naturwissenschaftlichen Studium lernte ich, dass Theorien dem “Test vieler Experimente” standhalten müssen - sie lassen sich nicht aufgrund nur einer Beobachtung, eines Augenzeuges beweisen. Mein christlicher Glaube stand urplötzlich im luftleeren Raum.

Rettender Strohhalm gesucht! Schaeffer - die grosse Anpassung

Francis Schaeffers Buch bot leider nicht die erwünschte Hilfe

Schaeffers Analyse fand ich schlüssig, das Problem war aber, dass dies meine Situation nur noch schlimmer machte. Ich wusste jetzt zwar, dass ich auf der falschen Seite des Kamms tendierte und je mehr ich diesen nagenden Gedanken nachginge, desto schlimmer würde es mit mir werden. Doch eine zufriedenstellende Antwort auf meine Frage bekam ich trotzdem nicht.

Hm, nein! Vielleicht hilft ein deutscher Theologe? Klaus Berger – die Bibelfälscher

Vielleicht entstammen die Fragen ja meinen europäischen Wurzeln und Schaeffer als Amerikaner geht das Thema nicht so an, wie ich mir das wünschte. Daher suchte ich einen Autor im deutschsprachigen Raum, der mir kulturell näher stand. Ich kam auf Klaus Bergers “Die Bibelfälscher“ - eine gelungene Kampfschrift gegen die liberale Theologie, welche gut aufzeigt, wo die liberale Theologie enden kann (z.B. im “Jesus-Seminar”), aber leider die Forderung nach der “Nachprüfbarkeit” der Bibel auch nicht entkräften konnte.

Reicht nicht! Etwas aus Adolf Schlatters Leben..

Im “Timotheus-Magazin“ fand ich dann eine kurze Biografie Adolf Schlatters. Er studierte Theologie in einer Zeit, wo der Liberalismus gerade aufkam, und hatte mit mit den gleichen Fragen zu kämpfen. Erst das kontinuierliche Lesen in der Bibel liess ihn diese Krise überwinden, also fing ich einen Bibelleseplan an, um wenigstens Gott wieder näher zu kommen. Aber die Fragen blieben trotzdem.

Und schliesslich Karl Barth, Überwinder des Liberalismus

Karl Barth war selbst liberal – und hatte dann den Liberalismus besiegt. Dieses Bild hatte mich dazu bewegt, Barth zu lesen <br /><small>(Quelle: <a href="https://www.facebook.com/Karl-Barth-for-Dummies-178609685499598/">Barth for Dummies</a></small>)

Dave Jäggi, hat mir das Bild rechts geschickt und ich dachte “vielleicht hilft mir Barth weiter. Oder er stürzt mich noch tiefer ins Zweifeln. Nunja, versuchen wir’s”. Ich las die 520-seitige Biografie über Barth “Karl Barths Lebenslauf” von Eberhard Busch. Barth hat den Liberalismus zuerst “einverleibt”, hat ihn geglaubt, die Ecken und Enden ausgelotet, und ihn dann widerlegt.

Das Ergebnis des Buchs vorweg: Mit Schaeffer war ich bisher erst imstande den Liberalismus wie einen Aussätzigen zu behandeln: Ich verbannte ihn weit von meiner Stadt, schloss die Tore zu und hoffte, dass er nie mehr den Weg in die Stadt finden würde. Doch ich hatte immer ein mulmiges Gefühl, da der Liberalismus irgendwo da draussen rumgeisterte. Was ist, wenn er eines Tages plötzlich unverhofft in meinem Haus auftaucht? Barth half mir nun, diesen Liberalismus kennenzulernen, seine Absichten und vor allem seine Schwächen aufzudecken, so, dass ich nun vermutlich weiss was zu tun ist, wenn er in meinem Haus auftaucht.

Zugegeben, ich habe nicht alles von Barth verstanden. Er ist nicht wirklich einfach zu verstehen (auch David Jäggi, der schon viel Barth gelesen hat, bezeichnet sich tröstlich als “Karl-Barth-Ein-Wenig-Verstehender”), manchmal bleibt Barth auch absichtlich vage. Wie dem auch sei – ich habe hier mit bestem Wissen und Gewissen die sieben für mich gewichtigsten Argumente gegen den Liberalismus niedergeschrieben.


Update: Ich habe viele Rückmeldungen zu diesem Artikel erhalten. Einige haben verstanden, dass ich auf Barths Linie sei. Das ist sicher nicht der Fall. Es gab aber Einiges aus Barths Lebenslauf, welche ich sehr relevant für die heutigen Glaubensfragen finde. Die untenstehenden Punkte sind also keine “volle Zustimmung zu Barth” sondern sozusagen ein Barth-Cherry-Picking.


Zu Karl Barths Leben: Er wuchs in einem gläubigen, orthodoxen, nicht-liberalen Elternhaus auf. Als er Theologie studierte, wurde er mehr und mehr liberal, bis er um 1920 seinen Weg aus dem Liberalismus herausfand. Er hat den Liberalismus also “einverleibt”:

eines der besten Mittel gegen die liberale und sonstwie üble Theologie besteht darin, sie eimerweise zu sich zu nehmen« (S. 55)

Nach seinem übermässigen Schluck Liberalismus kam Barth zum Schluss:

Freilich, diese Theologie ist »ein einziger Riesenschwindel, möchte man oft zornig schreien. Aber eben, die Einsicht, daß es so […] nicht geht, macht die Lage zwar klar, aber die Frage: Wie dann? nur um so bänger« (S. 164)

Der Rest seines Lebens war eine Suche nach dem “Wie dann?”; eine Suche nach dem Ort, wo die Liberalen falsch abgebogen sind:

1. Falls die Bibel nicht historisch gemeint ist, worauf soll der Glaube sich dann stützen?

Der Liberalismus – sofern ich ihn verstanden habe – funktioniert so: Lassen sich die Geschichten aus der Bibel (Heilungen, Auferstehung, etc.) mit ausserbiblischen Zeugnissen beweisen? Nein. Also ist die Bibel nicht als historisches Dokument zu verstehen, sondern als Beschreibung, was Menschen zu dieser Zeit über Gott geglaubt haben.

Barths Antwort:

an Ostern [ist] Jesus seinen Jüngern gegenüber getreten, und erst so sei ihr Glaube ermöglicht worden (S. 360)

Der Glaube an Gott muss an etwas aufgehängt werden; nämlich an Historischem, Tatsächlichen und nicht an einer Bibel die sich nur als “so haben Leute vor 2000 Jahren geglaubt” versteht. Eine »isolierte Lehre vom Glauben«, meint Barth, funktioniere eben so nicht, denn es fehlt ihm ein »Gegen-Stand eines persönlichen Gegenübers« (S. 464).

2. Ok, die Bibel ist historisch nicht nachweisbar, so what?

Was mich überrascht hat: Barth versucht gar nicht erst, die Bibel historisch nachzuweisen. Er lässt Bultmann et. al. einfach ins Leere laufen. Seine Antwort ist de facto: “So what? Wieso muss sie historisch nachweisbar sein?”. Er schreibt:

»Gibt es denn nicht auch historisch nicht nachweisbare und doch wirkliche Geschehnisse?«

Klar gibt es sie, wir alle erleben sehr relevante Dinge in unserem Leben, die passiert sind, welche wir aber nicht beweisen können. Auch an den Urknall glauben viele, obwohl er historisch nicht belegt ist. Und nun meint Barth, dass der Liberalismus die Bibel …

unter das »moderne Weltbild« stelle und so von vornherein im Blick auf den biblischen Inhalt gebunden und verpflichtet ist (S. 360)

Barth behauptet also nicht, dass die Bibel historisch beweisbar ist, findet aber, dass man dieser Frage nicht viel Bedeutung beimessen sollte.

3. die Strategie des Liberalismus - nämlich dem aufgeklärten Menschen den Glauben näher zu bringen – greift nicht

Eigentlich hätte der Liberalismus ja die Kirchen füllen sollen. Stattdessen sind die reformierten Kirchen nun leer. Barth dazu etwas giftig:

die ›Interesselosigkeit der Allgemeinheit gegen die protestantische Kirche‹ erklärt sich daraus, daß die protestantische Kirche seit ca. 200 Jahren tatsächlich weithin aufgehört hat, interessant zu sein (S. 229)

Barth hatte recht: Was am Anfang wie eine Revolution aussah; nach einer Möglichkeit, dem modernen Menschen endlich den Glauben an Gott nahezubringen, entpuppte sich dann als eine langweilige Geschichte, und das kritisiert Barth, weil…

ich sie viel zu humorlos fand, ferner, weil ich sie gerade für das ›Gespräch‹ mit dem modernen Menschen, auf das man ja damit im Besonderen hinauswollte, nach meinen Erfahrungen … nicht für ein erfolgreiches Instrument halten konnte (S. 401)

Während Barths Lehrtätigkeit flammte das Interesse für Bultmanns Entmythologisierung auf, aber ein paar Jahre später ist das Interesse dann auch wieder abgeflaut. Barth dazu:

ich freue mich besonders, … daß die Aufmerksamkeit der nachrückenden Generation sich von der im letzten Jahrzehnt das Feld allzu sehr beherrschenden Methoden- [Anm: historisch-kritische Auslegung] auf die Sachfragen zu verschieben scheint.

4. der Liberalismus fokussiert sich auf ein System – und verpasst dabei Gott

Was Barth so sympathisch macht: Er entscheidet immer “von Fall zu Fall”. Er ist sozusagen unvorhersehbar. Das kommt daher, dass er sich gegen zu viel Systematik wehrt:

Ein guter Theologe wohnt nicht in einem Gehäuse von Ideen, Prinzipien, Methoden. Er durchschreitet alle solchen Gehäuse, um immer wieder ins Freie zu kommen. (S. 435)

Sein Blick bleibt stets auf Gott und er betreibt gerade so viel Systematik wie nötig, um Gott beschreiben zu können. Seine Kritik: Der Liberalismus hat zum Programm, die Bibel “neu zu verstehen”, ein Raster zu machen, wie man welche Geschichte zu verstehen habe. Barth kritisierte die historisch-kritische Exegese nicht prinzipiell, schien aber immer “von Fall zu Fall” zu entscheiden: er war gegen eine Diskussion rein über die Methode der Auslegung, sondern viel mehr für die Auslegung konkreter Texte. Er meinte:

Hermeneutik ist kein selbstständiger Gesprächsgegenstand, ihr Problem kann nur in unzähligen hermeneutischen Akten – … alle auf den Inhalt der Texte bezogen – angegriffen und beantwortet werden (S. 362)

Statt sich Diskussionen zu widmen, ob die Bibel nun wörtlich gemeint ist oder nicht, hat sich Barth lieber damit auseinandergesetzt, wie Gott ist.

5. Liberalismus denkt vom Menschen aus, wahrer Glaube denkt von Gott aus

Die zentralste Aussage von Barth ist wohl die, dass Gott ›ganz anders‹ ist als wir. Dass wir Gott nicht in eine “Box” stecken und anschreiben können. Dass er die Ursache ist. Diese Gedanken decken sich mit der Bibel: Gott ist Schöpfer des Universums. Er hat Israel aus Ägypten geführt. Es war seine Idee, Jesus auf die Erde zu senden, usw.

Da der Liberalismus annimmt, dass eh nichts wahr ist; dass Menschen sich im Nachhinein die Geschichten überlegt hätten, dreht sich das Ganze und der Mensch wird zur Ursache. Barth dazu:

[Im Liberalismus] war immer schon alles fertig ohne Gott. Gott sollte immer gut genug sein zur Durchführung und Krönung dessen, was die Menschen von sich aus begannen (S. 112)

Was Barth aber anstrebte, ist …

dass Gottes Sache ausschließlich seine eigene Sache ist (S. 112)

Dieses Anliegen hat er seinen Mit-Theologen vorgetragen, zuerst beim Tambacher Vortrag (1919). Und nun kommen wir zu meinem Lieblingszitat aus “Karl Barths Lebenslauf”: Barth war sich wohl bewusst, dass er gerade dabei war, den Liberalismus anzugreifen, er schreibt über seinen eigenen Vortrag:

es ist eine nicht ganz einfache Maschine geworden, vorwärts- und rückwärtslaufend, nach allen Seiten schießend, an offenen und heimlichen Scharnieren keinen Mangel. (S. 123)

Barth bekämpfte diesen eingeschlafenen, von-mir-aus-denkenden Glauben des Liberalismus und macht Mut sich dem “Abenteuer Gott” zu stellen – dem Gott, der so ganz anders, unkontrollierbar ist:

so ist Gott […] die Begrenzung des Menschen; er bringt ihn nicht ins Gleichgewicht, sondern in die Unruhe in die »Krisis« (S. 132)

6. Liberalismus – und auch Fundamentalismus – nehmen der Bibel das letzte Wort weg

Da der Liberalismus schon von vornherein sagt, wie die Bibel zu verstehen ist (nämlich als ein Zeitzeugnis der Menschen und nicht als Gottes Offenbarung), nimmt er der Bibel das letzte Wort weg. Er hört ihr gar nicht zu, wie sie gelesen werden will, sondern schreibt ihr von vornherein vor, wie sie zu verstehen sei. Barth: Beim Lesen der Bibel darf unter keinen Umständen …

die Freiheit des Wortes Gottes … beschränkt werden durch eine Souveränität, die wir an seine Bezeugung schon herantragen, sondern es muß ihm seine Souveränität gelassen werden (S. 483)

Damit kritisiert er auch den Fundamentalismus, insofern er mit der Bibel genau dasselbe macht, sie nämlich von vornherein als “wörtlich inspiriert” betrachtet, bevor er ihr überhaupt richtig zugehört hat.

Barth ist aber weder dafür, dass die Bibel wörtlich inspiriert ist, noch dafür, dass sie stets übertragen zu verstehen ist, sondern er urteilt die Texte Fall für Fall. Er ruft dazu auf, das Wort Gottes ernst zu nehmen, darüber zu meditieren, bis man versteht, wie es gemeint ist:

Die der Theologie gestellte Aufgabe besteht … praktisch im »Nachdenken des vorgesagten und vorbejahten Credo«, [nämlich] im Fragen nach dem Verstehen - unter der Voraussetzung dass es wahr ist - nur eben gefragt wird »inwiefern es wahr ist« (S. 219)

Dazu gehört auch, sich zu überlegen wie es gemeint ist; manchmal ist es wörtlich zu verstehen, manchmal nicht. Das ist anstrengender als die eiserne Überzeugung, dass die Bibel überall wörtlich zu verstehen ist. Hier ist Barth sicher liberaler als die Evangelikalen. Doch wendet man dieses Ringen mit dem Text richtig an, so kann die Bibel davor bewahren, dass sie den Menschen zur Kuriosität verkommt (z.B. beim Festhalten daran, dass die Erde 6000 Jahre alt ist).

Zugegeben, die Gefahr ist, dass diese Methode als Vorwand benutzt wird, um die Bibel so zu lesen wie es gerade der Zeit entspricht, dass man die Bibel an die Gesellschaft anpasst (z.B. bezüglich Sexualität) und behauptet, diese Stellen seien eben gerade nicht wörtlich zu verstehen. Aber auf der anderen Seite kann auch der Fundamentalismus ein guter Vorwand sein, auf seinem Punkt zu verharren und Gott keine Gelegenheit zum Sprechen zu geben.

Mich jedenfalls hat Barth aufgerufen, noch mehr mit Gottes Wort zu ringen. So wie mich der Liberalismus von Gottes Wort abgeschnitten hat, haben Barths Überlegungen mich zur Bibel zurückgerufen.

7. Liberalismus will das Anliegen der Aufklärung erfüllen – und verfehlt das Ziel um Kilometer

Die grösste Ironie der Aufklärung – finde ich – ist Folgendes: Das Ziel der Aufklärung war, durch Anwendung des Verstands herauszufinden, wer wir sind, und woher wir kommen. Dann kam die Wissenschaft und erklärte, dass es nur Materie gebe und damit basta. Und damit war die eigentliche Frage gar nicht beantwortet und noch schlimmer: Es wird behauptet, die Frage sei gar nicht relevant.

Liberalismus, da verstandesgetrieben, läuft in die gleiche Sackgasse, und bemerkt es nicht – weil sie sich stets um ihre historisch-kritische Methode kümmert, Karl Barth meint dazu, er sei …

mitnichten gegen die wissenschaftliche Theologie, aber dagegen, dass sie sich in ihrer modernen Gestalt »von ihrem (zuletzt durch die Reformation deutlich gestellten) Thema entfernt« habe.

Der Glaube an Gott auf der anderen Seite gibt Antwort auf die Fragen “wer sind wir?” und “woher kommen wir?”, aber, er ist unkompatibel zur Wissenschaft.

Nun, diese gegengesetzte Polarität von Glaube und Wissenschaft (wie Öl und Wasser) hat Barth nach dem Studium von Anselm von Canterburys Gottesbeweis geknackt (Barths Buch dazu: Fides quaerens intellectum, das auf meiner Leseliste steht).

Barths Beweisführung geht in etwa so: Die Wissenschaft (und insbesondere die Mathematik) ist gegründet auf Postulaten; das sind Grundannahmen, welche man nicht beweisen kann, die es aber für den ganzen wissenschaftlichen Apparat einfach braucht (Nebenbemerkung: Gödel hat bewiesen, dass man nicht beweisen kann, dass so ein Postulat-System in sich widerspruchsfrei ist).

Das Ärgerliche ist nun, dass sich eben mithilfe dieser Postulate die Grundfragen der Menschheit nicht beantworten lassen. Das heisst, für den Glauben braucht es ganz andere Postulate, und Barth schlägt vor, dass dieses Postulat die “Auferstehung Jesu Christi von den Toten” ist:

[Heinrich Scholz] wollte uns doch so eine Kappe von Wissenschaftlichkeit über den Kopf ziehen – so und so sieht wahre Wissenschaft aus. Dort hieß es ›Vogel friss oder stirb!‹ … Die Wissenschaft der Theologie ist auf die Auferstehung Jesu Christi von den Toten begründet. (S. 220)

Und damit hat Barth das Christentum in eine Wissenschaft verwandelt – und damit das Anliegen der Aufklärung erfüllt: nämlich eine verständliche Erklärung zu haben, wer wir sind, und woher wir kommen. Zugegeben, das ist vielleicht nicht gerade im Buchstaben der Aufklärung, aber zumindest im Geist der Aufklärung.

Und nun zum bewegendsten Zitat, das ich aus seiner Biografie mitnahm:

Unter allen Wissenschaften ist die Theologie die schönste, die den Kopf und das Herz am reichsten bewegende, am nächsten kommend der menschlichen Wirklichkeit und den klarsten Ausblick gebend auf die Wahrheit, nach der alle Wissenschaft fragt (S. 257)

Zu Barths’ Leben: Er hatte trotz starker Meinung viele Freunde

Barth (Mitte) bei einer Seminardebatte

Zum Abschluss noch etwas, was mir an Barths Biografie positiv aufgefallen ist: Barths Fähigkeit mit Menschen umzugehen. Er war sehr meinungsstark und kampflustig, und doch gelang es ihm, die Menschen einfach zu nehmen, wie sie sind, und das hat ihm in jedem Lebensabschnitt viele Freunde beschert. Ein paar Zitate:

Er [Georg Merz] ist für mich eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, daß die Gemeinschaft zwischen Menschen darin besteht, daß man sich ihre Anziehungskraft gefallen läßt, daß man aus aller Kraft an ihnen rüttelt, daß man sich nicht verwundert, sie im Grunde nicht ändern zu können, und daß man sich dann dennoch und gerade so mit ihnen zusammen ›aufgenommen‹ sein läßt (S. 379)

An einer anderen Stelle:

Bruder Niemöller, mußte das notwendig so gesagt werden? … Langweilig ist es nie um ihn herum, aber oft etwas gefährlich. Und daß es ihm nicht um sich selbst, sondern um die Sache geht, das kann wohl auch dem nicht ganz entgehen, der nur oberflächlich mit ihm in Berührung kommt. Doch ist es nicht immer leicht, die heftig zugreifende, nervöse, gelegentlich herrische Person als Träger dieser Sache gelten zu lassen (S. 246)

Und:

Heinrich Vogel mochte Barth besonders gern: »nicht auch zuletzt auch darum, weil ich mich mit ihm necken darf«, aber natürlich vor allem darum, weil er ein so klarsichtiger Kämpfer war, »der, verhutzelt und aufgeregt wie er ist, einfach immer wieder da ist, seine Arme kreisen läßt wie eine Windmühle und ›Bekenntnis, Bekenntnis!‹ schreit und in seiner Weise tatsächlich ablegt« (S. 262)

Epilog: wieso Schaeffer und Barth wie Katz’ und Hund waren

David Jäggis <a href="http://www.logos-verlag.de/cgi-bin/buch/isbn/3430">Buch</a> berichtet über das Zusammentreffen zwischen Barth und Schaeffer

Trotz all dem Positiven, welche die Lektüre von Barth bietet: Es gibt auch ein paar Schattenseiten. Was mich am meisten gestört hat, ist, dass Barth wenig in seinem unmittelbaren Umfeld gewirkt hat: Die Beziehung zu seiner Frau hat er seinem Studium untergeordnet; so sehr, dass er sich schlussendlich in seine Mitarbeiterin verliebt hatte. Zudem hatte er die Erziehung seiner Kinder vernachlässigt. Zudem ging es ihm recht wenig um den Aufruf zur Bekehrung: Er findet, dass solche Aufrufe – zum Beispiel bei Billy Graham – viel zu konkret seien, sie sollten viel indirekter sein, etc. Ganz allgemein war er mir zu wenig pietistisch, dafür ein grossartiger Denker.

Demgegenüber hat Schaeffer viel mehr direkt gewirkt. Er hat den Menschen viel direkter in ihr Leben hinein gesprochen. Seine Verkündigung war viel mehr “auf den Punkt” als bei Barth, mit der Kehrseite, dass Schaeffer manchmal zu salopp war: Schaeffer und Barth haben sich einmal getroffen und man muss sagen, dass Schaeffer Barth nicht verstanden hat. Er hat ihn in den gleichen Topf geworfen wie die Liberalen, die Barth ja so vehement kritisiert hat.

David Jäggi hat über diese Zusammenkunft ein Buch geschrieben, das sehr aufschlussreich erklärt, was die Agenda dieser zwei Männer war. Kurz: Das Treffen ging nach hinten los, es gab null Verständigung, und Barth war danach nicht mehr bereit, sich nochmals zu treffen.

Obwohl Barth nicht so liberal war, wie Schaeffer es meinte, wäre er gemäss Schaeffers Wasserscheide-Analogie sicher auf der “falschen Seite” gelandet. Doch war Barth angepasst? Hat er sich einfach in die Gesellschaft eingereiht? Genau dies passiere gemäss Schaeffer bei Menschen, welche die Bibel nicht absolut wörtlich nähmen.

Bei Barth passierte dies nicht. Er hat sich im Zweiten Weltkrieg laut gegen den Nationalsozialismus geäussert, wurde aktiv, war federführend in der Bekennenden Kirche in Deutschland, hat Bonhoeffer von England zurück nach Deutschland gebeten. Er hat gerade dazu aufgerufen sich nicht dem Zahn der Zeit anzupassen:

die Not der Kirche … ist die Anpassung … an das gegenwärtig moderne Reden von Schicksal, Autorität, Ordnung usf. (S. 221)

Er hat seine Überzeugung nie verheimlicht, hat dadurch auch überall angeeckt und meinte dann:

wer mich nicht so haben will, der kann mich überhaupt nicht haben. (S. 238)

Noch eine Episode ganz zum Schluss: Als er Professor in Deutschland war, wurde ihm befohlen, vor den Vorlesungen jeweils den Hitlerschwur aufzusagen. Barth war bereit, dies zu tun, mit einem Zusatz:

Dieser von mir vorgeschlagene Zusatz lautete: dem Führer Treue leisten zu können nur, »soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann«. (S. 268)

Natürlich kam er damit nicht durch, und Barth benutzte sein Erscheinen vor dem Richter dazu, diesem die Absurdität dieser Forderung und auch des ganzen totalitären Staates zu zeigen:

Sie, die Richter, sollten nun im Interesse des Staates erklären, daß es mit jener Totalität nichts sei … Wenn sie das nicht tun, … so müßten sie sich klar darüber sein, daß sie damit Hitler zu einem inkarnierten Gott machten [und] gegen das erste Gebot aufs Schwerste verstossen (S. 270)

auf dem dritten Boden ersticken Sorgen, Reichtum und Begierden die Pflanze und sie bleibt kümmerlich

Nach vierzehn Jahren Haft in kommunistischen Gefängnissen wird Richard Wurmbrand freigekauft und flüchtet in das Christentum des Westens. Doch was findet er vor?

Gläubige Christen? (Denn sie können ja gefahrlos die Bibel lesen)
Starke Gemeinden? (Denn in Freiheit können sie ihre Gottesdienste abhalten)
Wachsende Gemeinden? (Denn das Evangelium kann frei und offen verkündigt werden)

Nein, was er vorfindet, sind schwache Gemeinden. Und er wünscht sich sogar zurück in die Untergrundkirche Russlands!

Ich leide im Westen mehr, als ich in kommunistischen Ländern gelitten habe. Mein Leiden besteht vor allem in der Sehnsucht nach der unaussprechlichen Schönheit der unterdrückten Kirche.

Eines seiner Bücher (Gefoltert für Christus) habe ich gelesen, und fand es bizarr, dass der Glaube in unterdrückten Kirchen stärker ist als in Kirchen in freien Ländern. Wieso ist das nur so?

Mir ist das Gleichnis des Sämanns in den Sinn gekommen: Der dritte Boden ist der, wo der Samen unter Dornen fällt und die Pflanze nur zu einer kümmerlichen Gestalt wächst. Die Dornen, erklärt Jesus, sind Sorgen, Reichtum und Begierden. Insbesondere den Reichtum zeichnet unsere Länder aus. Schwer ist’s für einen Reichen ins Reich Gottes zu kommen. Wieder und wieder warnt uns die Bibel vor dem »Betrug des Reichtums«. Doch wie können wir seinem Betrug entgehen? Wie können wir die Dornen wegreissen, um unsere Pflanzen zu vollem Wuchs zu bringen? Müssen wir in ein Land auswandern, wo Christen-Verfolgung herrscht? Wohl kaum. Und doch ist mir nicht recht klar, wie ich mich vor dem Betrug des Reichtums schützen kann.

Und darum geht es mir nicht mal um die Überlegung, wie ich ein „besserer Christ“ sein kann. Es geht mir um die Fülle, die Gott beim vierten Boden verspricht. Was, wenn alle Dornen aus meinem Leben weg sind, die mir das Licht und die Nährstoffe wegnehmen?

Hier ein paar wertvolle Lektionen aus Wurmbrands Buch:

Welt gering achten

Irgendwie ist allen klar, dass Besitz nicht alles ist, dass wir unser Erbe im Himmel haben etc. aber Wurmbrand bringt das auf einen ganz anderen Level. Am meisten (positiv) schockiert hat mich seine Beschreibung, dass in Untergrund-Publikationen Eltern aufgefordert werden…

ihre Kinder zu Begräbnissen mitzunehmen, damit sie früh lernen, über vergängliche Dinge nicht zu jammern (S. 113)

Normalerweise lernen wir als Christen unseren Besitz, unseren Konsum zu drosseln, aber wenn es um andere Bereiche wie Tot, Krankheit, Gefängnis geht, dann hört der “Spass” bald auf. Wurmbrand erzählt in der folgenden Episode, wie sein Sohn zum Glauben gekommen war, nämlich als er gesehen hat, dass seine Mutter den Glauben an Jesus als wertvoller erachtete als Gesundheit und Freiheit:

Nachdem zwei Jahre von der Haftzeit meiner Frau verstrichen waren, erlaubte man ihm (Anm: Mihai, dem Sohn) einen kurzen Besuch. Er kam in das kommunistische Gefängnis und sah seine Mutter hinter Eisengittern. Sie war schmutzig, abgemagert, hatte schrundige Hände und trug die schäbige Sträflingskluft. Er erkannte sie kaum wieder. Ihre ersten Worte waren: “Mihai, glaube an Jesus!” In wilder Wut zerrten die Wachen sie von Mihai weg und führten sie ab. Mihai weinte, als er mit ansah, wie seine Mutter fortgestossen wurde. Dies wurde die Stunde seiner Bekehrung. Wenn jemand unter solchen Umständen Christus noch lieben konnte, dann war Er sicherlich – das erkannte er jetzt – der wahre Erretter. (S. 47)

Furchtloses Bekennen

Mehr als einmal fand ich mich in einer Situation, wo ich dachte: “Sag ich nun etwas oder nicht?“ Und ich wusste: Wenn ich jetzt mein Mund auftue, dann werde ich keinen Applaus ernten.

Bei Wurmbrand stand noch viel mehr auf dem Spiel und er hat seinen Mund aufgetan – konsequent. Am Anfang seines Leidenswegs war eine Konferenz, wo 4’000 Priester, Pastoren und Prediger aus allen Denominationen versammelt waren und sie aufgerufen wurden, der neuen kommunistischen Kirche die Treue zu schwören:

Einer nach dem anderen, ob Bischof oder Pfarrer, erhob sich in unserem Parlament und erklärte öffentlich, daß der Kommunismus und das Christentum in ihren Grundlagen gleich seien und friedlich nebeneinander bestehen könnten. Ein Geistlicher nach dem anderen fand preisende Worte für den Kommunismus und versicherte der neuen Regierung die treue Mitarbeit der Kirche. Meine Frau saß neben mir und sagte zu mir:
“Richard, steh’ auf und wasche diese Schande vom Antlitz Christi! Sie speien ihm ins Gesicht.”
Ich sagte zu meiner Frau: “Wenn ich das tue, verlierst Du Deinen Mann.” Sie erwiderte: “Ich möchte keinen Feigling zum Mann haben.”
Da stand ich auf und sprach zu diesem Kongreß. Ich pries nicht die Mörder der Christen, sondern Christus und Gott und sagte, daß wir zuallererst ihm unsere Treue schulden. Alle Reden auf diesem Kongreß wurden durch den Rundfunk übertragen, und das ganze Land konnte die von der Rednertribüne des kommunistischen Parlaments verkündigte Botschaft von Jesus Christus hören. Später mußte ich dafür bezahlen, aber das war es wert gewesen.

Vater vergib’ ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun

Insgeheim empfand ich den Ausspruch Jesu’ bei seinem Tod (»Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun«), den auch Stephanus bei seiner Steinigung rief, als nicht nachvollziehbar. Wie kann jemand in seinen Todesqualen die Motivation der anderen verstehen? Bei Wurmbrand finde ich Ähnliches vor: Er hat echtes Mitleid mit den Menschen im Kommunismus. Er versteht sie, dies half ihm sogar seine Folterer zu lieben. Sein Glaube überwand die Welt:

Oft fragte ich die Folterer: “Habt ihr tatsächlich kein Mitleid in euren Herzen?”
Gewöhnlich antworteten sie mit einem Zitat von Lenin: “[…] man kann kein Holz spalten, ohne dass Späne fliegen”.
Ich entgegnete: “[… Aber] wenn ein Stück Holz gespalten wird, fühlt es nichts. Hier aber habt ihr es mit menschlichen Wesen zu tun. Jeder Schlag verursacht Schmerzen, und es gibt auch noch Mütter, die weinen.”
Es war alles umsonst. Sie sind Materialisten. Für sie existiert nichts als Materie, und ein Mensch ist für sie wie ein Stück Holz […]. Mit solchem Glauben sinken sie in unvorstellbare Tiefen der Grausamkeit.
[…] Wenn ein Krokodil einen Mensch auffrißt, erregt das mein Mitleid, aber ich kann das Krokodil nicht verdammen. Es ist eben ein Krokodil. Es ist kein moralisches Wesen. Ebenso wenig kann man über die Kommunisten ein moralisches Urteil fällen. Der Kommunismus hat in ihnen jedes moralische Gefühl zerstört.

Die Notwendigkeit eines Lebens ohne Ruhe

Wurmbrand war erfrischend menschlich: nach vierzehn Jahre Kerker war er in der Freiheit und genoss die Ruhe. Und er wollte nun eigentlich in Abgeschiedenheit leben, doch es drängte ihn, wie auch Jeremia, er hatte dann eben doch keine Ruhe. Er ging diesem “Ruf” nach:

Auch ich möchte die Seligkeit meines geistlichen Weinbergs tief verschlossen in meinem Herzen bewahren und nicht in einen solchen Kampf der Geister hineingezogen werden. Wie gern wäre ich irgendwo in Ruhe und Abgeschiedenheit! Aber es ist nicht möglich. Die Gefahr des Atheismus steht vor der Tür. (S. 84)

Nicht vom Glauben ausgehen

Ein Letztes noch: etwas, was ich schon bei Lloyd-Jones gelesen habe: In unseren Gemeinden gehen wir eigentlich stets davon aus, dass die Besucher unserer Gottesdienste glauben, und wenden wir uns in den Predigten “fortgeschrittenen Lehren” zu. Und doch, wenn ich auch mich selbst ansehe: Habe ich nicht so oft Zweifel? Denn hätte ich vollen Glauben, würde mein Leben dann nicht ganz anders aussehen? (Meine eigene Schlussfolgerung: Auch in unseren Gottesdienst hat Apologetik ihren Platz für, ja es besteht sogar Bedarf!)

S. 94: Die Pfarrer hier im Westen setzen gewöhnlich voraus, dass diejenigen, die in die Kirche kommen, von den Wahrheiten des christlichen Glaubens wirklich überzeugt sind, was aber vielfach gar nicht der Fall ist. Man hört selten eine Predigt, die die Wahrheit unseres Glaubens erweist. Hinter dem Eisernen Vorhang jedoch geben Menschen, die es nie gelernt haben, ihren neu gewonnenen Glaubensbrüdern eine feste Grundlage ihres Glaubens.

Über das Buch

Gefoltert für Christus

Das Buch Gefoltert für Christus (168 S) kann ich sehr empfehlen. Die Beschreibungen über die Folterungen sind wohl für den einen oder anderen etwas zu heftig, doch die Herrlichkeit Jesu’ dringt durch das Buch voll durch, ich finde sogar noch mehr als in “The Hiding Place” von Corrie ten Boom. Das Buch ist hier als Download erhältlich.

Hanniel hat hier eine Buchbesprechung publiziert.

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