Michael Winterhoff – Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Früher – also als ich noch Kind war – früher, da galt es etwas, wenn ein Erwachsener etwas sagte. Kinder fluchten Erwachsene nicht an, sie sagten nicht einfach trotzig “Nein!”, sie schlugen nicht, die Spielregeln waren einfach klar. Aber heute ist das ganz anders.

Soweit so gut. Haben wir schon tausendfach gehört. “Früher war alles besser”. Alter Kaffee.

Was mich aber fast verrückt macht, ist, dass meine Kinder so sehr in diese respektlose Haltung abdriften, obwohl ich sie nicht dazu erziehe. Was meine Eltern mit mir machten, mache ich doch auch: Ich bin konsequent, ich verbringe Zeit mit ihnen, zeige Interesse, etc. aber der Narzissmus, die Unfähigkeit auf andere einzugehen, Respekt zu zeigen wird gross in ihnen. Die Rezepte meiner Eltern greifen einfach nicht mehr; es ist alles viel zäher, mühsamer, und natürlich fängt man dann an an sich selbst zu zweifeln …

Wieso driften die Kinder heute viel stärker in Respektlosigkeit wie früher? Ein grosser Teil ist die Beeinflussung durch ihre Umwelt: Ihre Freunde sind respektlos; bei Kindergeschichten, -filmen und -liedern (z.B. Schtärnefoifi) ist fast immer der Tenor “Eltern sind blöd, Kinder sind schlauer”. Natürlich durchtränkt dies die Kinder, natürlich braucht es heute umso mehr Gegensteuer, um auf Kurs zu bleiben.

Nun, ist es die Mühe wert? Ist es denn wichtig? Ich komme zu Schluss: ja! Bei gefühlt der Hälfte der Bibelversen über den Umgang mit Kindern geht es darum, ihnen Respekt beizubringen. (z.B. fünftes Gebot, Exo. 20,12: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!«).

Michael Winterhoff beschreibt den Wandel der Kindererziehung über 20 Jahre

Michael Winterhoff

Michael Winterhoff ist Kinder- und Jugendpsychiater und ist Autor des Buches mit dem dreisten Titel “Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Das Buch ist 2008 erschienen und ist mittlerweile recht populär: Es wurde ca. ½ Million mal verkauft. Ich fand es sogar bei uns in der Dorfbibliothek.

In seinen 20 Jahren Praxiserfahrung hat er einen Wandel in der Kindererziehung festgestellt. Waren anfangs nur 2-3 Kinder pro Klasse auffällig, so waren es zum Schluss ein Drittel. Die Erwartungen an die Kinder fielen von Jahr zu Jahr, aber Winterhoff blieb seinen Massstäben treu und behandelte die Kinder stets nach dem Schema, auch wenn er dabei etwas “altbacken” erschien. So vermied er, dass er sich dem Zahn der Zeit anpasste, und konnte den Wandel des Erziehungsstils gut dokumentieren.

Ich erhoffte, dass ich im Buch Antworten auf meine Frage bekomme, wieso Respekt beibringen schwieriger als früher ist und welche die effektivsten Methoden hierzu sind. Diese Fragen werden im Buch nur teilweise beantwortet: Praktische Tipps leider fehlen völlig. Dafür ist Winterhoffs Analyse im Gebiet der Kinderpsychologie grösstenteils überzeugend, nur bei der Gesellschaftskritik schafft er es nicht recht zu überzeugen, er stellt z.B. die These auf, dass der Grund der Misere ist, dass Eltern mit Technik überfordert sind. Ein weiterer Kritikpunkt am Buch: Zum Teil sind seine Beschreibungen einfach zu extrem, ein Artikel der “Zeit” beschreibt treffend:

Das ist etwa so, als schriebe ein Gefängnisdirektor ein Buch über die Moral der Gesellschaft und führte als Nachweis die Verbrechenskarrieren seiner Häftlinge an.

Ron Kubsch hat hier eine umfassende Rezension zum Buch geschrieben, ich will das Buch hier nicht umfassend beschreiben, sondern picke mir drei Rosinen aus dem Kuchen raus:

1. Die Kinder in ihrer psychologischen Entwicklung fördern

Winterhoff schreibt: Kinder werden von ihren Eltern in ihrer psychologischen Entwicklung alleine gelassen, lernen sich nicht unterzuordnen und scheitern dann schlussendlich an der Lehre. Dasselbe entnehme ich auch der Tagespresse, z.B. diesem griffigen Beispiel:

Ich erinnere mich auch an einen Lehrling, der im Spital gearbeitet hat. Als er die Nachttische hätte putzen sollen, verweigerte er die Arbeit. Er sagte, er selber habe ja nichts dreckig gemacht. Er hat die Lehre schliesslich abgebrochen.

Die Reaktion des Lehrlings ist so weltfremd, dass man gar nicht weiss, wie man es ihm verständlich erklären könnte. Es gibt weitere Beispiele, etwas vom Maurerlehrling, der sich weigert, draussen zu arbeiten, wenn es zu kalt ist,. Quintessenz: Viele Kinder sind bei Schulabschluss zwar genügend intelligent, aber psychisch den Anforderungen der Berufswelt nicht mehr gewachsen. Ein Zitat von Winterhoff:

Der Irrglaube ist, dass sich Psyche von alleine entwickelt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Psyche wird vor allem durch die Umwelt beeinflusst, besonders durch ein erwachsenes Gegenüber als Begrenzung der eigenen Individualität (S. 70)

Winterhoff führt auf - und da gebe ich ihm recht - dass Eltern ihren Kindern viel zu früh zu viel Mitbestimmungsrecht geben. Bei Dingen, welche sie selbst gar nicht beurteilen können, lassen Eltern sie mitreden, bei der Wahl des Urlaubsortes zum Beispiel. Wenn Eltern danach gefragt werden, wieso sie dies tun, kommt als Beispiel die Antwort: »Manuel ist pfiffig und trifft den Nagel oft auf den Kopf«. Die Konsequenz daraus ist aber, dass erstens die Familie aus Unreife falsche Entscheidungen fällt, und zweitens das Kind absolut überfordert ist:

Persönlichkeit setzt erst mit dem achten oder neunten Lebensjahr ein. Was man [davor] „Persönlichkeit“ nennt, ist, dass die Kinder lustbetont sind, und annehmen, sie seien alleine auf der Welt und können rein lustbetont ihren Willen ausleben. Diese Kinder haben noch nicht gelernt, die Aussenwelt/andere Menschen als Begrenzung des eigenen Ichs zu akzeptieren (S. 28)

So wie das Kind seine Zeit braucht um sich körperlich oder intellektuell/sprachlich zu entwickeln braucht es seine Zeit um sich psychisch zu entwickeln. Das sind drei verschiedene Stränge, die voneinander getrennt gefördert werden müssen. Gemäss Winterhoff kommt der psychologische Strang am ehesten zu kurz. Oft geschieht es, dass die Erziehung nur auf die körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten fokussiert wird und die psychologische ausser Acht gelassen wird.

Winterhoff listet vier Bereiche auf, wo Kinder Hilfe in ihrer psychologischen Entwicklung brauchen (S. 33)

  1. Frustrationstoleranz
  2. Gewissensinstanz
  3. Arbeitshaltung
  4. Leistungsbereitschaft

Leider geht er dann auf diese Bereiche nicht näher ein. Für konkrete Schritte empfehle ich Hanniels Reihe “Buben in die Selbstständigkeit leiten”.

2. Es ist einfach so! Bei kleinen Kindern funktioniert Erziehung nicht primär über den Verstand

Winterhoff beschreibt: Eltern versuchen den Kindern zu viel zu erklären, in der Hoffnung über den Appell an ihren Verstand Besserung herbeizuführen. Wo noch wenig Verstand ist - nämlich bei kleineren Kindern - muss der Verstand nicht appelliert, sondern aufgebaut werden. Ein Zitat:

Der alte Kant’sche Leitsatz »Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen« ist in unserer spätaufklärerischen Gesellschaft zum Mantra geworden, das wir innerlich unablässig vor uns hinmurmeln und das unterschiedslos auf alle Menschen in unserer Umgebung [Anm: auf unsere Kinder] projiziert wird. […]
Folglich unterstellen wir, diesem modernen Denkansatz folgend, auch Kindern die Fähigkeit, das »Sapere aude« [Anm: »Wage es, weise zu sein«] zu leben und verstandesgesteuert ihr Verhalten einrichten zu können.

Auch hier gibt es im Buch keine praktische Anweisung, der einzige halb-konkrete Anhaltspunkt ist der Appell an den gesunden Menschenverstand:

Kurzum: Es war [früher] völlig normal, dass das Gros der wichtigen Entscheidungen von Erwachsenen getroffen wurde und die Kinder das Ergebnis zu akzeptieren hatten. Der Grund dafür war stets die Anerkennung einer unsichtbaren Grenze zwischen Erwachsenenwelt und Kinderwelt, erkennbar beispielsweise auch an der Tatsache, dass wertende Äußerungen über Erwachsene Kindern nicht zugestanden wurden, sondern dem Kind zumindest verbal deutlich gemacht wurde, dass es sich so etwas nicht herausnehmen dürfe. Diese verbale Sanktionierung kam dann auch in Form einer Feststellung daher (»So redet man nicht über Erwachsene!«) und nicht mit dem Versuch einer ausführlichen Begründung, warum das so sei.

3. Erziehung setzt voraus: Du bist du, und ich bin ich

Erziehung kann nur dann funktionieren, wenn der Erwachsene das Kind nicht “als sich selbst” sieht, sondern als eigenständige, unabhängige Persönlichkeit. Das ist wohl die Hauptaussage des Buches. Fangen Eltern und Kinder miteinander zu “verschmelzen” wird der Erziehung den Boden unter den Füssen entzogen. Dann hilft alles Schelten und Strafen nichts, alle Versuche verpuffen ohne merkliche Auswirkung.

Winterhoff beschreibt drei Stufen der Verschmelzung:

  1. Partnerschaftlichkeit (»mein Kind ersetzt meine Ehe/fehlende Freundschaften«)
  2. Projektion (»ich will, dass meine Kinder gut sind, damit es mir selbst gut geht«)
  3. Symbiose (»mein Glück hängt vom Glück meiner Kinder ab«)

Die Beschreibung der einzelnen Stufen (wobei Winterhoff die Stufe 3 als die schlimmste bezeichnet) fand ich nicht sonderlich hilfreich. Folgende Überlegung von Winterhoff machte aber Sinn: Wenn das System Eltern=Erzieher, Kinder=Lernende/Unterordnende durcheinandergerät, dann hilft alle Konsequenz, alles Grenzen setzen nicht mehr. Dann ist die Erziehung “ausser Rand und Band”. Ein treffendes Zitat:

Wenn der Erwachsene [bei offensichtlicher Rebellion des Kindes] mit Blickkontakt, also äußerlich erkennbarer Zuwendung auf das Kind zugeht, wird das Kind grinsend beweisen, dass es [die Situation im Griff hat]. Bevor der Erwachsene das Kind greifen kann, wird es dann um den Tisch herumlaufen und es witzig finden, dass der Erwachsene es nicht erwischt. […] Die Verweigerungshaltung des Kindes erzeugt bei den Eltern in der Regel sofort Druck, weil sie das Gefühl bekommen, dass sich ihr eigener Körperteil weigert, eine Funktion richtig auszuführen. Das Gefühl des Drucks führt zu gesteigerter Aufregung mit dem Ergebnis entsprechender Strafandrohungen oder schließlich gar dem Abstrafen des Kindes [was aber keine grosse Wirkung erzielen wird, …]

Die normale Reaktion der Eltern würde [aber] darin bestehen, sich dieser provokativ wirkenden Verweigerungshaltung von Seiten des Kindes nicht zur Verfügung zu stellen, sich also abgegrenzt zu zeigen (genau wie bei den Provokateuren, an denen man in der Stadt einfach vorbeigeht) und dem Kind damit zu bedeuten, dass es die Eltern mit seinem frechen Verhalten nicht steuern kann. Es ist sehr wohl denkbar, das Kind wegen dieser Frechheit auf sein Zimmer zu schicken. Sinn dieser Handlung wäre die räumliche Trennung, um auf diese Weise zu einem natürlichen Aggressionsabbau beim Kind zu kommen.

Dieses Zitat beweist, dass Winterhoff nicht für besonders strenge, strafende Erziehung ist (was ihm häufig vorgeworfen wird), sondern sich für die richtige Basis zwischen Eltern und Kindern einsetzt. Ist diese Voraussetzung erfüllt, genügen Worte, einfache Handlungen um die Kinder wieder auf den richtigen Weg zu bringen.

Wie man aber nun zu dieser gesunden Basis kommt, darüber schweigt das Buch leider auch. Was mir bleibt, ist, Missstände im Gebet vor Gott zu bringen und immer wieder mit meiner Frau darüber zu sprechen, welche Schritte wir tun können, um die Eltern-Kind-Beziehung wieder ins Lot zu bringen.

Charles Darwin

Als Naturwissenschaftler hat mich folgendes Zitat von Charles Darwin angesprochen:

Bis zum Alter von 30 Jahren hatte ich grosse Freude an Poesie jeder Art, sogar als Schuljunge hatte ich Freude an Shakespeare.
Früher gaben mir Bilder, und speziell Musik, grosses Vergnügen. Aber jetzt, seit Jahren, kann ich keine Zeile Poesie mehr ertragen: Ich habe versucht Shakespeare zu lesen, und ich empfand es so unerträglich öde, dass es mich anekelte. Ich habe auch beinahe alle Empfindungen für Bilder und Musik verloren. Ich erfreue mich mässig über grossartige Landschaften, aber es entsteht in mir nicht dieses herrliche Vergnügen, wie es früher war.

Mein Geist scheint sich in eine Art Maschine verwandelt zu haben, welche eine grosse Sammlung von Fakten in allgemeingültige Gesetze vermahlt. Doch ich verstehe nicht, wieso sich der Teil des Gehirns zurückgebildet hat, der diese gewaltigen Empfindungen hervorbringt.

Der Verlust dieser Empfindungen ist ein Verlust an Freude und wird vermutlich meinem Intellekt schaden, und noch wahrscheinlicher meinem moralischen Charakter, indem es den emotionalen Teil unserer Natur schwächt.

Aus: Autobiografie von Darwin, die er für seine Kinder schrieb, gefunden und übersetzt aus “John Piper: When I don’t desire God”

Auch ich bin dieser Gefahr ausgesetzt. Auch ich merke, dass es mir schwerfällt nach einem Tag analytischen Denkens mich auf die Schönheiten des Lebens: das Fahrradfahren durch die Natur, die fröhlichen Kinder, das feine Essen einzulassen.

Die Lösung ist aber nicht “weniger denken, mehr leben” sein, sondern die “Analyse von Gott” - die Welt durch Gottes Augen anschauen. Und Gott hat Freude an der Natur; dazu ein lustiges Zitat von Chesterton:

Es ist möglich, dass Gott jeden Morgen zur Sonne sagt: “Mach es nochmals”, und jeden Abend zum Mond: “Mach es nochmals”. Es muss nicht sein, dass alle Gänseblümchen gleich sind, aber nie wurde er müde sie nochmals zu machen. Es mag doch sein, dass er eine ewige Lust hat an der Kindheit; denn wir haben gesündigt und sind alt geworden, und unser Vater ist jünger als wir.

Aus: Chesterton: Orthodoxie, gefunden und übersetzt aus “John Piper: When I don’t desire God”

John Piper - When I don't desire God

Schleichend kam sie, die Lustlosigkeit: Keine Lust zum Beten, das Bibellesen gemäss Leseplan am Morgen abgehakt und los geht’s in den Tag.

Das war doch früher anders! Ich erinnerte mich wie John Piper in “Desiring God” beschrieb, wie sich “Lust” nach Gott anfühlt. Aber nun, wenn sie nicht mehr da ist, ist sie halt nicht mehr da.. Aber oh weh, leidig ist es, wenn Christen freudlos sind, Lloyd-Jones dazu:

Zu oft scheinen Christen in einer Dauer-Flaute zu sein; sie erwecken den Eindruck von Unzufriedenheit, fehlender Freiheit und Freudlosigkeit. Ohne Frage ist dies der Hauptgrund, wieso eine grosse Anzahl Menschen kein Interesse mehr am Christentum haben.

Doch was, wenn bei mir gerade Flaute ist? Genau dazu hat Piper das Buch geschrieben “When I Don’t Desire God: How to Fight For Joy“. Der Titel hat mich angesprochen und als Fan von John Piper kam ich eigentlich nicht um das Buch herum.

Im ersten Teil erweckt er eine “Lust nach Gott” (ähnlich wie in “Desiring God”), im zweiten Teil wird er praktisch: Es gibt natürlich viele Gründe, wieso man die Freude an Gott verloren hat: U.a. behandelt er das Thema “Depression”. Bei mir brauchte es einfach eine Portion “naht Euch zu Gott, so naht Er sich zu Euch” um meine Freude zu Gott wiederzufinden. Zwei Dinge haben mir dabei sehr geholfen:

1. Das Morgengebet

Ein englischer Prediger sagte mal: »well, do you need to read your bible in the morning? You only need to, if you want to do well spiritually«. Damals fand ich den Satz gesetzlich, aber mittlerweile stimme ich der Aussage zu (auch wenn ich sie vielleicht etwas anders formulieren würde). Auch Piper schlägt vor, jeden Morgen eine feste Zeit zu haben, sozusagen das “feste Fundament, worauf die freie Beziehung zu Gott stehen kann”.

Die meisten seiner Empfehlungen habe ich umgesetzt: Ich habe mir 1 Stunde Zeit eingeplant und einen speziellen Ort eingerichtet. Er empfiehlt, die Zeit mit einem Gebet zu beginnen:

  1. »Neige mein Herz zu Dir, dass ich weder aus stolzer Gewinngier noch aus falschen Motiven bete« (Ps. 119,36) – ich füge jeweils dazu an, dass Gott mich vor der Gesetzlichkeit schützt, die behauptet, dass ich nun ein besserer Christ wäre, da ich morgens bete.
  2. »Öffne meine Augen, so dass sie Dein Wort verstehen« (Ps. 119,18) – ich füge jeweils dazu, dass Gott mir seine Schrift öffnet, damit ich nicht darüber hinweg lese.
  3. »Richte mein Herz auf das eine, dass ich Dich fürchte« (Ps. 86,11) – ich füge dazu, dass Gott mir Aufmerksamkeit schenkt und kein wanderndes Herz, das bei der Arbeit oder Alltagssorgen ist.
  4. »Sättige mich mit Deiner Gnade« (Ps. 90,14) – nähre mich, damit ich in den Tag satt starten kann und selbst für die andere eine Quelle sein kann.

Auf Englisch lautet das Akronym zu den vier Schritten IOUS (Incline, Open, Unite, Satisfy). Das Deutsche NÖRS ist nicht ganz so hübsch aber dafür einprägsam..

Ich finde dieses Gebet enorm hilfreich. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass mein Herz am morgen früh meist “kalt für Gott” ist, dass ich häufig gar keine Lust auf die Zeit mit Gott habe. Während dieses Gebets erwärmt Gott mein Herz, macht es weich, damit es sich überhaupt auf Gott einlassen kann.

Und nun die Überraschung: Damit ist der “freie Gebetsteil” zu Ende, Piper spricht sich gegen das lange, freie Gebet aus! Der Grund ist dieser: Wenn wir frei beten, sind wir automatisch mit uns selbst beschäftigt und das Gebet besteht hauptsächlich aus unseren eigenen Emotionen (ich habe hier schon mal darüber geschrieben).

Anstelle des freien Gebets schlägt Piper vor, das Gebet in das Lesen der Bibel einzuflechten: Er empfiehlt, ein paar Verse zu lesen, und dann darüber zu beten:

Ist es ein Gebot? So bete, dass Gott dein Herz zur Umkehr bringt, damit es das Gebot gerne hält. Ist es eine Verheissung? Dann danke Gott dafür oder bete für Vertrauen, dass Gott die Verheissung erfüllen wird; etc.

Erst dachte ich, dass so meine persönliche Anliegen keinen Platz hätten, aber erstaunlicherweise kommen sie so fast immer zum Zug.

Nach gut einem Monat kann ich sagen: Wenn es etwas gibt, das mein Glaubensleben in den letzten Jahren bereichert hat, dann ist es solches “Bibel-Lesen-Gebet”!

2. Bibelverse auswendig lernen

Bibelverse auswendig lernen mit AnkiDroid

Bibelverse auswendig lernen schien mir etwas altbacken. Macht man heute nicht mehr. Ich kann die Verse ja aufschlagen auf meinem Handy, und das habe ich immer dabei. Ich war einigermassen überrascht, als Piper diesem Thema ein halbes Kapitel widmete.

Doch, einmal ausprobiert, habe ich die Wirkung geschmeckt: Verse auswendig lernen ist sozusagen der “Seitenwagen” des morgendlichen Bibellesens. Oder anders gesagt: Das Lesen am Morgen ist ein Lesen mit den Augen, das Auswendiglernen ist ein Essen des Wortes mit dem Mund. Es gibt in meiner Erfahrung nichts, was mir das Wort Gottes näher ans Herz zieht.

Ganz praktisch schlägt Piper vor, jede Woche ein paar Verse zu lernen. Ich habe mir dazu die App “Anki” (gibt es für Android und für iPhone, Mac und Windows) installiert und in etwa Folgendes gemacht:

  1. die Anki-Karte anlegen mit einem Vers, der mir beim Bibellesen ins Auge gestochen ist (Copy-Paste des Bibeltexts auf dem Laptop oder auf dem Handy)
  2. Vers(e) 10x Wort für Wort durchlesen, den Text sichtbar vor sich halten.
  3. die Verse 10x versuchen auswendig aufzusagen (da merke ich dann, welche Teile ich mir nicht so gut gemerkt habe).
  4. den Vers durch den Tag immer wieder ins Gedächtnis rufen

Die Schritte 1-3 lassen sich gut unterwegs machen (Schritt 4 sowieso). Ich persönlich nehme mir dafür nach der Mittagspause ca. 10 Minuten Zeit.

Nach 1-2 Tagen ist der Vers “drin”, sodass ich ihn bei einer “brenzligen” Situation, bei einem geistlichen Kampf sofort in Gedanken rezitieren kann und so die Schlacht gewinnen kann.

Dann fühlt es sich so an, als wäre die Zeit mit Gott nicht mehr nur auf den Morgen beschränkt, sondern kann den ganzen Tag erfüllen.

Die Predigt und der Prediger von Martin Lloyd-Jones, hier in der englischen Fassung

Martyn Lloyd-Jones gilt für viele als der letzte grosse Prediger. Seine Antwort auf leere Kirchbänke war lebendige, Gott-zentrierte, Geist-erfüllte Predigt. Er predigte in England nach dem 2. Weltkrieg, hielt 3 Predigten pro Woche und hatte ein Publikum von mehreren Tausend Zuhörern (!). Wenn es jemanden gibt, der etwas über Predigen in unserer Zeit weiss, dann er.

Nach rund 40 Jahren Predigterfahrung hielt er eine Vortragsreihe über das Predigen, diese erschien als Buch “Preaching and Preachers” (auf Deutsch: “Die Predigt und der Prediger“, 3L-Verlag).

Warum habe ich das Buch gelesen? Ich predige seit letztem Jahr jeden 2. Monat in unserer Gemeinde. Da ich einerseits einfach besser werden wollte im Predigen und andererseits wissen wollte, ob Predigen überhaupt meine Berufung ist habe ich ein Buch über dieses Thema gesucht. Dieses Buch ist mittlerweile zu dem Standardwerk zum Thema Predigt/Predigen geworden, darum war das meine erste Wahl. Über meine Berufung bin ich mir auch nach dem Buch noch nicht sicher. Was ich nach dem Buch nun aber weiss ist, was eine Predigt ist, wie man sie vorbereitet und wieso Predigen so wichtig ist.

Im Buch begeisterten mich die Fülle von Lloyd-Jones’ Einsichten; ich war überrascht über seine ansteckende Ernsthaftigkeit. Es ist zudem sehr praktisch und gespickt mit vielen Erlebnissen, welche Lloyd-Jones in seinem vierzigjährigen Dienst erlebt hat. Am unterhaltsamsten fand ich die Episode, als er für eine Predigt eingeladen wurde, welche ausgestrahlt wurde und er die Predigt eigentlich auf eine bestimmte Uhrzeit fertig vorgetragen haben musste, er sich dann aber dafür entschied, auf den Heiligen Geist zu hören und dann nicht ganz zur Zeit fertig wurde :-) (S. 258).

Begeistert über das Buch wollte ich die wichtigsten Erkenntnisse aufschreiben. Um die Zusammenfassung unterhaltsamer zu gestalten (und die Lebendigkeit des Buches zum Ausdruck zu bringen), habe ich den Inhalt kurzerhand in ein Interview umgeformt. Die Seitenangaben beziehen sich auf die 2005 erschienene Hardcopy-Auflage der 3L-Verlages.

Martyn Lloyd-Jones am Predigen

Interview: Die Wichtigkeit der Predigt

Herr Lloyd-Jones, wieso setzen Sie sich für die Wichtigkeit der Predigt ein?

Die Predigt hat im letzten Jahrhundert enorm an Wichtigkeit eingebüsst. Hauptsächlich ist dies passiert, weil die Gesellschaft weniger an die Echtheit und Autorität der Bibel glaubt (S. 16). Das Wort Gottes ist aus dem Zentrum gerückt und stattdessen geht es mehr um ein Zeremoniell, um das “drum herum”.

Die Folge davon ist ein Rückgang des Glaubens, leere Kirchen, teilnahmslose Christen.

Betrachtet man die Kirchengeschichte aus der Vogelperspektive, dann sieht man Folgendes: Der Glaube verfällt immer dann, wenn die Predigt ihre Bedeutung verliert. (S. 27)

Diesen momentanen Verfall wollen nur wenige wahrhaben. Der Grund dazu ist, dass unsere Wohlstandsgesellschaft die Menschen betäubt. Sie vermittelt ihnen das Gefühl, dass mit ihnen alles in Ordnung sei (S. 36). Es ist die Aufgabe der Kirche und die Aufgabe der Predigt - und sie allein vermag dies zu tun - bei der Wurzel der Probleme zu beginnen.

Es gibt doch bestimmt auch andere Methoden dasselbe zu erreichen. In unserer Zeit...

Einer der grössten Irrtümer unserer Zeit ist die Meinung, dass wir, weil wir im Zwanzigsten Jahrhundert lebten, ein völlig neues Problem hätten. Obwohl wir aus der Geschichte sehen, dass die Predigt einen eingeschlafenen Glauben aufzuwecken vermochte, denken wir, dass unsere Umstände nun ganz anders sind. Wir denken, dass mit der Wissenschaft und den technischen Errungenschaften alles anders kam. Und doch, wenn wir uns die Geschichte ansehen, dann ist unsere Zeit der Zeit Jesu sehr ähnlich: Zu seiner Zeit war die grosse griechische Blüte vorbei; es herrschte eine ähnliche Müdigkeit und Mattheit mit der Folge, dass man Vergnügen und Belustigung suchte. Also ist unsere Zeit nicht gerade neu! Und dazumal wurde der Glaube durch die Predigt ins Leben gerufen, wieso sollte dies nicht auch heute nochmals passieren?

Denken Sie wirklich, dass ein Prediger die Kirchenbänke wieder füllen kann?

Natürlich! Ich bin der Meinung, dass primär die Kanzel dafür verantwortlich ist, dass die Kirchenbänke leer sind. Ich glaube, dass ein berufener Knecht Gottes mit einer wahren Predigt die Menschen anziehen wird. Was heute geschieht, ist aber, dass wir anfangen unsere Gottesdienste anders zu gestalten, die Predigt unter eine andere “Form der Kommunikation” stellen (S. 56), doch bei dem allem verirren sich die Leute in all jenen Details und Diskussionsgegenständen. Das Zentrum eines Gottesdienstes ist die Predigt und diese sollte den Effekt haben, dass der Zuhörer danach nicht derselbe ist wie vorher. Wenn das geschieht, dann werden die Leute kommen.

Wirklich? Die Leute kommen, wenn sie ihr Leben ändern müssen? Müssen sie nicht erst einmal Zuspruch erhalten?

Nein, ganz und gar nicht. Vergleichen wir die Predigt mit einem Operationssaal (S. 58): Als Prediger bin ich der Chirurg, Sie als Zuhörer der Patient. Soll ich, der Chirurg, mich denn hinsetzen und Ihnen eine ganze Reihe schöner Sätze mitgeben, sodass ich Sie lobe und Sie dann so weggehen wie Sie gekommen sind? Soll ich Sie wegschicken mit dem ausgekugelten Arm, mit dem Abszess, mit den Kopfschmerzen?

Nein, die Menschen sollen darum in den Gottesdienst kommen, weil etwas mit ihnen nicht stimmt; und wenn ihnen das nicht klar ist, dann müssen wir ihnen das klar machen. Wenn Menschen uns zuhören können, ohne besorgt über sich selbst zu werden oder über sich selbst nachzudenken, haben wir keine Predigt. Die Predigt spricht uns auf eine Art und Weise an, dass sie uns unter das Gericht bringt.

Die Menschen sollten nach der Predigt nicht sagen: “Das war nun eine schöne Predigt” und “Was hat dir am besten gefallen?”. Denn das heisst, dass die Leute in der Predigt sitzen und den Redner beurteilen als objektive Zuhörer. Die Predigt ist nicht der Ort, wo unterhalten wird, wo interessante Gedanken entwickelt werden, etc. sondern die Predigt soll das Problem des Hörenden aufgreifen, nämlich die Sünde, die in ihm ist.

Die Predigt

Wie soll denn eine solche Predigt aussehen? Was macht denn eine Predigt aus?

Das ist eine gute Frage, nämlich, was unterscheidet die Predigt von z.B. einem Vortrag? Ist es nur der Inhalt oder der Fakt, dass das in einer Kirche passiert? Nein, ich glaube die Predigt ist nur dann eine Predigt, wenn sie in einer bestimmten Form daher kommt (S. 77). Wenn Sie die aufgeschriebenen Predigten z.B. von Petrus an Pfingsten oder bei Stephanus bei der Steinigung oder auch Paulus’ Verteidigungsrede anschauen, dann folgen sie alle einer bestimmten Form, und das ist nicht zufällig!

Zunächst muss die Predigt “aus der Bibel” heraus sein. Das beginnt bei der Vorbereitung des Predigers: Diese muss mit einer Bibelstelle anfangen. Auch der Vortrag der Predigt muss mit der Schrift anfangen. Es darf nicht so sein, dass der Prediger einen Gedanken hat und danach schaut, welche Bibelstellen diese Gedanken untermauern könnten. Falls es so ist, dann gleicht die Predigt einer Vorlesung, denn diese beginnt mit dem Thema und bemüht sich darum, möglichst viele Informationen und Erkenntnisse über dieses Thema zu vermitteln. Eine solche Rede richtet sich primär an den Verstand. Eine Predigt aber beginnt nicht mit dem Thema, sondern mit einem Bibeltext. (S. 79)

Dann sollte die Predigt einen klaren Aufbau haben, nämlich sollte sie auf ein Ziel zusteuern, auf eine Schlussfolgerung. Die Struktur der Predigt soll sein, dass Punkt 1 in Punkt 2 führt etc. bis die ganze Predigt in der grossen Schlussfolgerung endet und diese alles dominiert, was gesagt worden ist, und die Zuhörer beim Weggehen daran denken werden (S. 81)

Das klingt nach viel Arbeit!

Ja, das ist es auch! Die ganze Vorbereitung der Predigt besteht darin, Ihre Gedanken zum Bibeltext in diese Form zu bringen.

Wirkungsvolle Predigten sind das Ergebnis von Studium, Disziplin, des Gebets und ganz besonders der Salbung des Heiligen Geistes. Sie müssen fortwährend das Material ins Feuer halten und es auf dem Amboss liegen lassen und es immer und immer wieder mit dem Hammer treffen. Jedes Mal ist es ein wenig besser, aber noch nicht ganz gut; also bearbeiten Sie es immer wieder, bis Sie damit zufrieden sind oder es nicht mehr besser machen können (S. 84).

In der Geschichte der Kirche gibt ein paar wenige Ausnahmen, eine war Alexander Maclaren, ein Baptistenprediger dessen Predigtbände immer noch aufgelegt werden, der schien eine Art goldener Hammer in der Hand zu haben mit der er nur an einen Text klopfen musste, und unmittelbar teilte er sich in Punkte auf. (S. 215)

Doch stützen Sie sich niemals auf diese Ausnahmen, denn sie bestätigen nur die Regel und die Regel ist, dass die Vorbereitung einer Predigt viel Zeit, Gebet und Disziplin in Anspruch nimmt.

Sicher macht nicht nur einfach die Form eine Predigt aus, sondern auch ihr Wesen, die Art, wie sie vorgetragen wird, richtig?

Richtig! Zunächst soll eine Predigt ernsthaft sein. Richard Baxter z.B. predigte, als ob er sich nicht sicher war, dass er jemals wieder predigen könne. Es heisst, dass, als er auf der Kanzel erschien, bevor er auch nur ein einziges Wort ausgesprochen hatte, Leute im Stillen zu weinen begannen. Wir haben eine sehr wichtige, grosse Botschaft, und daher muss auch unser Auftreten ernsthaft und dringlich sein.

Dann komme ich nochmals auf die Tendenz einiger Prediger zurück, dass ihre Predigt eher einem Vortrag als einer Predigt gleicht. Nichts ist bei einem Prediger so fatal, als dass er den Eindruck vermittelt, persönlich unbetroffen zu sein. Viele Prediger treten als Rechtsanwalt auf und erörtern ein Thema, als wenn es einen Fremden beträfe. Das soll so nicht sein! Ein Prediger soll als Zeuge auftreten, als Mitbetroffener!

Braucht der Prediger eine Beziehung zu seinen Zuhörern? Oder genügt es, wenn er sich die ganze Woche durch im Studierzimmer einsperrt, um am Sonntag für 2 Stunden zu erscheinen?

Nun, es ist eine Sache gerne zu predigen, gerne vorzubereiten, gerne zu lesen, eine ganz andere Sache ist es aber diejenigen zu lieben, welche der Predigt zuhören (S. 98). Als Jesus die Volksmenge sah, hatte er Erbarmen mit ihnen, denn “sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben” (Mk 6,34). Wenn Sie dieses Gefühl überhaupt nicht kennen, dann sollten Sie nicht auf der Kanzel stehen.

Was können Sie weiter über das Wesen der Predigt sagen?

Sie soll Überzeugungskraft haben. Eine Predigt ist keine trockene Sache, sie soll den Zuhörer hineinziehen, sie soll ein Empfinden von Gott und seiner Gegenwart vermitteln. Der Inhalt muss gut sein, wie gesagt muss der Inhalt aus dem Wort Gottes herauskommen, aber der Vortrag davon muss etwas von Gottes Grösse und Eifer beinhalten, es ist eine Kombination zwischen Logik und Feuer.

Alles in Allem muss gesagt werden, dass das Predigen an sich einer der grössten Aufgaben ist, welcher ein Mann annehmen kann, und der Prediger soll das Empfinden vermitteln, dass er, obwohl er selbst untüchtig ist, etwas behandelt, was sehr gross und sehr herrlich ist (S. 104)

Das ist eine enorme Verantwortung! Welcher Mensch ist dazu tüchtig?

Allerdings! Jeder, der auch nur ein gewisses Bewusstsein dessen hat, was es bedeutet, zu predigen, wird unweigerlich empfinden, dass er noch nie gepredigt hat. (S. 105)

Wer soll predigen?

Was raten Sie jemandem, der sich nicht sicher ist, ob er zum Predigtdienst berufen ist?

Die Frage ist gut, und jeder Prediger sollte sich diese Frage stellen, denn ganz eindeutig sind nicht alle Christen zu diesem Dienst berufen. In Apg 8,4-5 z.B. wird die Verkündigung von Philippus von der Verkündigung anderer Christen unterschieden. Die Christen predigten das Wort, man kann das griechische Wort auch mit “tratschen” übersetzen, Philippus predigte das Wort auch, aber dieses Wort ist besser übersetzt mit “herolden” (S. 109). Dieser Unterschied ist nicht zufällig!

Durch meine Jahre als Prediger habe ich viele Anwärter zum Predigtdienst kennengelernt und kann daher mit einiger Erfahrung sagen, was einen guten Prediger ausmacht. Das Erste ist, dass er sich nach diesem Dienst sehnt, so sehr, dass er sich wünscht, dass die Gemeinde ihn finanziell so unterstützen kann, dass er sich ausschliesslich diesem Dienst widmen kann.

Ausschliesslich?

Sagte ich bereits, dass die Wichtigkeit der Predigt in den letzten Jahrhunderten enorm gelitten hat? Das ist eine Konsequenz davon, dass es nur noch wenige Christen nötig finden, ihr ganzes Leben diesem Dienst zu unterstellen.

Das Predigen nimmt, von aussergewöhnlichen Umständen abgesehen, die ganze Zeit in Anspruch. Das Predigeramt ist nicht etwas, was man gleichsam nebenbei ausüben kann; das ist ein verkehrter Ansatz und dazu eine falsche Haltung. (S.110)

Das Zweite ist, dass sich ein Anwärter nichts anderes vorstellen kann, worin er glücklich werden könnte. C.H. Spurgeon hatte folgenden Rat gegeben: “Wenn Sie irgendetwas anderes tun können als Predigen, dann tun Sie das”. Sie müssen dieses Drängen fühlen und es muss sich darin zeigen, dass wenn immer Sie etwas anderes tun, Sie immer wieder auf den Predigtdienst zurückgeworden werden. Es fühlt sich an als eine Art Druck, den Sie auf Ihrem Geist lasten fühlen, eine Unruhe in Ihrem Geist und dann damit, dass Ihre Gedanken ganz auf die Frage des Predigens gerichtet werden.

Was ist, wenn ich einen anderen Beruf ausübe?

Falls Sie dieses Drängen spüren, das ich vorher erwähnt habe, aber die Umstände lassen es nicht zu, dass sie Vollzeitprediger sind - z.B. wenn die Gemeinde Sie finanziell nicht tragen kann - dann sehe ich hierzu keine Probleme. Was ich problematisch finde ist, wenn Laienprediger ein so hohes Selbstvertrauen haben, dass sie kritisch oder sogar verächtlich über ordinierte Prediger eingestellt sind; wenn sie denken, dass sie sozusagen nebenbei genau den gleich guten Dienst verüben können als ein Prediger, der seine ganze Zeit dafür investiert.

Wie viel soll ich der Gemeinde zumuten?

Viele Prediger von heute sind "seeker-friendly", sie versuchen, die Hürde für Nichtchristen möglichst tief zu halten. Was halten Sie davon?

Tatsache ist, dass die Welt von uns erwartet, anders zu sein; und dieser Gedanke, dass man die Welt gewinnen könne, indem man ihr zeige, dass man ihr ja letztlich sehr ähnlich sei, mit fast überhaupt keinem Unterschied ist nicht nur in theologischer, sondern sogar in psychologischer Hinsicht grundlegend falsch. Wir dürfen nie den Eindruck vermitteln, dass die Leute lediglich eine kleine Anpassung in ihrem Denken und ihren Ideen und ihrem Verhalten vornehmen müssten; denn damit widersprächen wir unserer Botschaft, nämlich dass jeder Mensch von “neuem geboren werden” muss. (S.146-148)

Nun ja, der Inhalt wird für sie neu sein, aber wenigstens die Form, die Sprache, können wir doch auf die heutige Zeit anpassen, nicht?

Ja, sicher ist es gut, die Predigt so verständlich wie möglich vorzutragen, aber bedenken Sie, dass der natürliche Mensch das Evangelium von sich aus nicht verstehen kann, darum ist es aussichtslos, die Nachricht vollständig verständlich zu machen, denn damit müsste man das Evangelium entleeren (S. 138). Wir sollten von den Leuten nicht erwarten, dass sie die christlichen Begriffe wie Rechtfertigung verstehen, denn der ganze Sinn der Predigt ist es ja, ihnen dieses Verständnis zu vermitteln!

In meinen Predigten habe ich dem Publikum sehr viel zugetraut, ich habe es ihm nicht gerade einfach gemacht. Ich habe oft von Leuten gehört, die beim ersten Gottesdienstbesuch praktisch nichts verstanden, aber die ganze Atmosphäre, die Ernsthaftigkeit hatte sie nicht mehr losgelassen, und so kamen sie Sonntag für Sonntag und sie merkten allmählich, dass sie die Wahrheit in sich aufnahmen, bis sie dann fähig waren, den ganzen Gottesdienst zu geniessen. (S. 135)

Wie lange soll die Predigt sein? Der Mensch sich nicht mehr so lange konzentrieren wie früher!

Meine Predigten sind gewöhnlich 45 Minuten und mehr. Ja, ich weiss, die modernen Studien sagen, dass der Mensch sich nicht so lange konzentrieren kann, aber darauf gebe ich nicht viel. Ich hatte einen Brief erhalten von einem zwölfjährigen Mädchen, das in eigenem Namen schrieb: “Sie sind der einzige Prediger, den wir verstehen können.” Wenn schon 45 Minuten für ein Mädchen nicht zu viel sind, dann wird es auch einen Erwachsenen nicht überfordern.

Soll der Prediger sich auf die Zuhörerschaft anpassen? Soll er zu Intellektuellen anders predigen, als zu Handwerker?

Hüten Sie sich davor! Der Prediger braucht diese Details nicht zu kennen. Warum nicht? Weil er weiss, dass alle Leute, die vor ihm sitzen, an derselben Krankheit leiden, nämlich der Sünde - jeder Einzelne von ihnen.

Ja, aber die Probleme sind doch ganz andere! Der Handwerker betrinkt sich mit Bier und der Intellektuelle ist stolz, da muss sich doch etwas unterscheiden! Man muss doch denen helfen, aus ihrer Sünde herauszukommen!

Dieser moderne Ansatz basiert auf einem völlig falschen Denken. Es basiert darauf, dass man den wahren Charakter der Sünde nicht erkennt; man sieht nicht ein, dass Sünde das Problem ist, nicht das Sündigen. Bei einer richtigen Verkündigung müssen Männer und Frauen dahin geführt werden, dass sie ihre fundamentale Not erkennen, und sie werden in derselben Weise durch denselben Geist bekehrt und wiedergeboren (S.145)

Wiedergeboren? Die meisten Gottesdienstbesucher sind ja schon Christen!?

Das dürfen Sie nicht voraussetzen! Die heutige Verkündigung basiert immer auf der Annahme, dass alles Christen sind, dass die Menschen nicht in der Gemeinde sässen, wenn sie keine Christen wären. Dies ist, denke ich, einer der kardinalen Irrtümer der Kirche, insbesondere in diesem Jahrhundert. Dies zeigt den völligen und gefährlichen Irrtum der Annahme, dass jeder, der treu den Gottesdienst besucht, auch automatisch Christ sein müsse.

Nun aber, wenn wir annehmen, dass meine Zuhörer Nicht-Christen sind, wird die Predigt dann nicht langweilig für die Zuhörer, welche tatsächlich Christen sind?

Mir erscheint es undenkbar, dass jemand, der ein wahrer Gläubiger ist, sich eine Darstellung der schrecklichen Sündhaftigkeit der Sünde und der Herrlichkeit des Evangeliums anhören kann, ohne in zweierlei Hinsicht bewegt zu werden: Nämlich zu verstehen, dass sein eigenes Herz im Grunde böse ist, und dann, dass das Evangelium dieses Herz erlösen kann, wenn es das nicht schon getan hat. (S. 158)

Ist es nicht einfacher, wenn wir annehmen, dass einfach alle Christen sind? Das erspart uns, dass unsere Predigten so angriffig sind.

Ich kenne nichts, was noch wahrscheinlicher für eine Gemeinde von Pharisäern sorgen wird als gerade das. Ein weiteres Ergebnis dieser falschen Haltung ist, dass Leute, die sich selbst für Christen halten, aber eigentlich keine sind, jeden Sonntag nur einen Gottesdienst besuchen; einmal genügt ihnen, sie brauchen nicht mehr! Sie besuchen den Gottesdienst gemeinhin nur am Sonntagmorgen; sie sind zu “Einmal-Kirchgängern” geworden, wie man sie nennt. (S. 160)

Nun ja, mal angenommen, wir führen einen evangelistischen Gottesdienst pro Woche durch, dann würden wir diesen zusätzlich zu unserem jetzigen Gottesdienst (für Christen) einführen. Wie bringe ich die Leute dazu, auch den evangelistischen zu besuchen?

Die erste Antwort lautet, dass Christen, wenn sie nicht in jedem Gottesdienst anwesend sind, eines Tages wohl entdecken könnten, dass sie nicht zugegen waren, als etwas wirklich Bemerkenswertes stattfand. Also sage ich zu diesen “Einmal-Kirchgängern”, dass sie, wenn sie nicht zu jedem Gottesdienst kommen, einen Tag erleben könnten, wo Leute ihnen von einem erstaunlichen Ereignis in einem evangelistischen Gottesdienst berichten - und da sie waren nicht da, ihn verpasst haben. Mit anderen Worten: Wir sollten diesen Geist der Erwartung in den Leuten bewirken und ihnen die Gefahr aufzeigen, wunderbare “Zeiten der Erquickung vom Angesicht des Herrn” (Apg 3,19) zu verpassen.

Mit jemandem, der behauptet, Christ zu sein und der kein Verlangen danach hat, alles das zu haben, was man aus dem Dienst der Kirche empfangen kann, stimmt in geistlicher Hinsicht etwas Grundlegendes nicht. (S. 161)

Sind das nicht übersteigerte Anforderungen an das Herz der Christen?

Nein, sicherlich nicht. Die Frage ist, wie ich es ihnen erkläre: Ich würde Christen, welche keine hohen Erwartungen an den Gottesdienst haben so wenig wie möglich ermahnen sondern ihnen einfach erklären, dass wenn sie aus blosser Pflichtgefühl in den Gottesdienst kommen, dass wenn die Kirchbänke halb leer sind, und die Zuhörer die da sind immer wieder auf ihre Uhr schauen, dass dies keinen Eindruck macht auf einen Unbekehrten. Ein voller Gottesdienst aber, eine Kirche voller Zuhörer, die auf der Stuhlkante sitzen, diese Atmosphäre alleine ist ein guter Boden für die Bekehrung von Menschen.

Das Problem ist, dass so viele nicht dabei verweilen und über die Angelegenheiten nachdenken. Sie gehen bloss aus Pflichtbewusstsein in diese Gottesdienste und fühlen sich, nachdem sie dort gewesen sind, besser, weil sie ihre Pflicht getan haben.

Predigtvorbereitung

Wie sollte man sich auf die Predigt vorbereiten? Reicht es, wenn ich eine Woche davor anfange, wenn ich dann jeden Tag daran arbeite?

Ich bin ein Gegner von universal festgelegten Regeln. Nichts ist wichtiger, als dass ein Mensch sich selbst kennenlernen sollte. Lassen Sie mich das veranschaulichen: Wir leben im Körper, und unsere Körper unterscheiden sich von Fall zu Fall. Wir haben auch unterschiedliche Temperamente und Wesensarten, sodass man keine universellen Regeln aufstellen kann. Manche von uns fangen morgens langsam an; andere wachen frisch und voller Energie am Morgen auf. Es ist von vielen Faktoren abhängig. Daher argumentiere ich, dass es unsere erste Aufgabe ist, uns selbst kennenzulernen, zu erkennen, wie Sie, mit ihrer speziellen Konstitution, funktionieren. Erkennen Sie, wann Sie am besten in Form sind und wissen, wie Sie mit sich selbst umgehen können. Denn wenn Sie das nicht tun, dann ist es durchaus möglich, dass Sie ein paar Stunden mit dem offenen Buch vor sich an einem Schreibtisch sitzen und Seiten dabei umschlagen, ohne etwas aufzunehmen. Vielleicht könnten Sie zu einem späteren Zeitpunkt am Tag mehr in einer halben Stunde tun, als Sie in den zwei Stunden am Vormittag getan haben. (S. 175)

Karl Barth z.B. hörte am Vormittag Mozart. Eigentlich überraschend, dass ein solcher Denker eine so unintellektuelle Musik hört, um “warm” zu werden. Es ist von unschätzbarem Wert, wenn Sie etwas finden, das Sie entspannt, Sie in eine gute Stimmung versetzt. Musik bewirkt das bei manchen auf ganz wunderbare Weise. (S. 190)

Was ist denn die Rolle des Gebets beim Vorbereiten der Predigt? Ich nehme an, dass das einen grossen Stellenwert einnehmen soll?

Das Gebet ist für einen Prediger von unerlässlicher Bedeutung. Lesen Sie die Biografien der grössten Prediger aus allen Jahrhunderten: Sie waren immer Männer des Gebets. Ich habe immer damit gezögert, diese Thema zu behandeln, ich bekenne frei heraus, dass ich es oft als schwierig empfunden habe, am Morgen mit Gebet anzufangen.

Wieso?

Weil man nicht auf Befehl beten kann. Man kann nicht auf Befehl auf die Knie gehen; aber wie soll man beten? Fangen Sie an, indem Sie etwas lesen, was Ihren Geist erwärmt. Sie müssen lernen wie Sie eine Flamme in Ihrem Geist anzünden. Vor allem sollten Sie immer auf jeden Impuls zum Gebet reagieren. Sei es während dem Lesen oder während dem Ringen mit dem Text.

Wie wichtig ist das persönliche Bibelstudium?

Ich würde sagen, dass alle Prediger mindestens einmal im Jahr die ganze Bibel in ihrer Gesamtheit durchlesen sollten. Ich fand einen Plan, der Robert Murray McCheyne für die Mitglieder seiner Gemeinde in Dundee erstellte. Wenn sie seinem Plan folgen, lesen Sie jeden Tag vier Kapitel der Bibel, und dabei lesen Sie das Alte Testament einmal und die Psalmen und das Neue Testament zweimal jährlich durch.

Ja, aber was hat das mit dem Predigen zu tun? Soll ich mein persönliche Bibelstudium dafür benutzen, andere zu lehren?

Nein, lesen Sie Texte nicht, um Texte für Predigten zu finden, sondern lesen Sie sie, weil sie die Speise ist, die Gott für Ihre Seele geschaffen hat. Wenn Sie die Bibel auf diese Weise lesen - dabei macht es nichts aus, ob Sie wenig oder viel gelesen haben - dann lesen Sie nicht einfach weiter, wenn ein Vers hervorsticht und Sie trifft und gefangen nimmt. Halten Sie sofort an, und hören Sie auf den Text. Redet er zu Ihnen, so hören Sie auf ihn, reden Sie zu ihm. Hören Sie sofort mit dem Lesen auf, und arbeiten Sie an der Aussage, die Sie so sehr getroffen hat. Fahren Sie so fort, bis Sie das Gerüst der Predigt angefertigt haben. Viele Jahre lang habe ich meine Bibel nie gelesen, ohne einen Notizblock entweder auf meinem Tisch oder in meiner Tasche zu haben. (S. 180)

Und dann? Soll ich gleich bei der nächsten Gelegenheit darüber predigen?

Nein, Sie bereiten Sie auf Vorrat vor! Ein Prediger muss wie ein Eichhörnchen sein, und muss lernen, wie er Material für die bevorstehenden Wintertage sammeln und aufbewahren kann. Jedes Mal, wenn Sie beim lesen etwas entdecken, dann schreiben Sie es auf. Sie entdecken bald, dass Sie auf diese Weise einen kleinen Stapel von Gerüsten angesammelt haben. (S. 181)

Was ist mit anderen Büchern? Welche andere Bücher sollte ich lesen?

Es ist wichtig, dass Sie lesen. Es ist tragisch, wenn Prediger zu Schallplatten werden, die immer wieder dasselbe ausspucken. Das wird jeden früher oder später langweilen.

Ich würde sagen am Wichtigsten ist es, Kirchengeschichte zu lesen: Biografien und Tagebücher von Männern Gottes, von grossen Predigern, Wesley, Whitefield usw. Diese Bücher haben zweierlei Wert: Einerseits vermeiden Sie es entmutigt und depressiv zu werden. Dies ist wohl eine der grössten Gefahren als Prediger. Andererseits hilft es Ihnen, sich nicht zu sehr zu überheben. Wenn Sie versucht sind, zu meinen, dass Sie Ihre Aufgabe ausserordentlich gut ausführen und dass nie zuvor jemand so gepredigt hätte, nun, dann lesen Sie einfach nur in George Whitefields Tagebüchern, und Sie sind in weniger als fünf Minuten geheilt.

Als Nächstes lesen Sie apologetische Lektüre. Es ist die Aufgabe des Predigers die momentanen Modeströmungen in der Theologie zu beurteilen und darüber zu predigen. z.B. über den scheinbaren Konflikt zwischen Wissenschaft und Glaube. Oder die Psychologie und ihre subtilen Angriffe auf den Glauben. Die Menschen sind in Unschuld und Unwissenheit immer noch bereit, durch gute Redner falsche Lehren aufzunehmen. Als Prediger ist es unsere Aufgabe, sie davor zu schützen und ihnen zu helfen (S. 185).

Wie viele Notizen soll ich mir von der Predigt machen? Soll ich den Wortlaut niederschreiben?

Ich fange damit an, wovon ich Ihnen abraten kann: Keinesfalls sollten Sie Ihre Predigten ablesen, denn so verlieren Sie den Kontakt zu den Zuhörern. Was auch nicht funktioniert ist Predigten auswendig lernen; sie können die Zuhörer zwar ansehen, aber Sie werden dabei so sehr damit beschäftigt sein zu rezitieren, dass doch kein rechter Kontakt zum Publikum entstehen kann. Statt sich eine Predigt zu merken, machen Sie doch einfach Notizen von ihr.

Und wie sehr sollen diese Notizen ausgeschrieben sein?

Ich rate Ihnen: wenn Sie noch nicht viel Erfahrung im Predigtdienst haben, dann schreiben Sie umso mehr auf. Wenn Sie einige Jahr(zehnt)e Erfahrung haben, dann können Sie mit weniger Notizen die Kanzel betreten.

Das Wichtigste bei alledem ist: Sie brauchen die Freiheit auf den Heiligen Geist hören zu können, Sie müssen fähig sein von Ihrem Skript abzuweichen. Haben Sie z.B. bemerkt, dass Paulus in seinen Briefen immer mal wieder ein Argument anfängt, und dann so weit vom Thema abkommt, dass er nicht mehr zum angefangenen Argument zurückkommt? Das ist Freiheit. (S. 238)

Die Rolle des Heiligen Geistes

Können Sie noch etwas mehr über die Rolle des Heiligen Geistes während der Predigt sagen?

Ja, allgemein wird diese unterschätzt. Bedenken Sie, dass sich sogar Jesus auf den Heiligen Geist berief bei seinem Predigtdienst (Lk 4,18: “der Geist des Herrn ist auf mir”). Über Petrus heisst es, dass er eine besondere Salbung des Heiligen Geistes empfing (Apg 4,8), und zwar war das ein Ausgiessen des Geistes im Moment der Predigt. Dies bezieht sich nicht etwa auf das Pfingstereignis, denn es steht explizit “da sprach Petrus, vom heiligen Geist erfüllt”; dies war etwas, was gerade im Moment geschah!

Nun ja, unser Hoffen auf den Heiligen Geist schliesst eine gute Vorbereitung nicht aus, oder?

Nein, natürlich nicht. Doch eine gute Vorbereitung allein reicht nicht. Paulus, ein Mann der grossen Worte, schrieb in 1. Kor 4,20, dass seine Verkündigung nicht primär aus Worten besteht, denn diese blähen auf. Das Reich Gottes besteht nicht aus Worten, sondern aus Kraft. Das, sagt der Apostel, ist der Test der Verkündigung, die Kraft und nicht die Worte! (S. 320)

Und, wenn Sie sich den Zustand der Welt ansehen; wenn Sie sich die moderne Mentalität ansehen; wenn Sie da nicht an die Kraft des Geistes glauben, dann ist es ein herzzerbrechender Auftrag.

Sofies Welt beantwortet die Frage: In welche Zeit bin ich hineingeboren worden?

Jede Generation hat ihre verfärbende Brille auf. Dinge, die nie hinterfragt werden, die “einfach so sind”. Im Nachhinein sagt man dann “Wie konnten sie nur..”.

Wie bitte sehr wurde Sklavenarbeit begründet? Wie konnte es nur zum Nationalsozialismus kommen? Mich lässt die Frage nicht los: Wird man in der Zukunft über unser Jahrhundert sprechen: “Wie konnten sie nur..?”. Ohne Frage! Doch was ist an der heutigen Zeit abartig? Und wie kann ich dies erkennen und mich davon distanzieren?

Ich selbst bin ein Kind der Zeit und bin auch als Christ in gewissen Gedankenmustern gefangen. Doch in welchen? Mir fehlte der Überblick über die Philosophie-Geschichte, um die vielen Gedanken überhaupt einordnen zu können: Woher stammt die heutige Weltanschauung? Woher kommen verschiedene christliche Strömungen (insbesondere das liberale Christentum)? Ich war schon drauf und dran den “Störig“ zu bestellen, als mir ein Kollege Sofies Welt empfahl.

Das Buch ist enorm spannend geschrieben. Trotz der 600 Seiten hatte ich es - als ungeübter Leser - in knapp zwei Wochen durch, da es eine geschickte Mischung zwischen Philosophie-Geschichte und Storytelling ist. Die geschickte Erzählstruktur hat das Buch auch in die “Top 50 Liste” der meist verkauften Bücher katapultiert. Das Buch ist definitiv lesenswert. Obwohl es nicht christlich ist, kann ich es als eine gute Übersicht zur Philosophie empfehlen. Ich habe eine Zusammenfassung aller Philosophen gemacht, welche im Buch behandelt werden.

Was mich besonders interessiert hatte: Ich wollte wissen, woher gewisse Denkensarten herkommen. Ich habe 5 Strömungen analysiert mit einem Wissensstand von “Sofies Welt”, ich kann nicht für mehr Korrektheit als Sofies Welt garantieren, insbesondere wenn es darum geht woher ein gewisses Gedankengut kommt.

Woher kommt die Idee, dass es nur das gibt, was wir messen können?

Der heutige Trend: Eigentlich ist die heutige Philosophie tot. Oder anders formuliert, was früher Philosophen waren, sind heute Naturwissenschaftler: Die Wahrheit wird mittels Teilchenbeschleuniger oder Marsexpeditionen erforscht. Dass es eine absolute metaphysische Wahrheit gibt, glaubt ja fast niemand mehr, deshalb lohnt es sich auch nicht, darüber zu philosophieren. Was wir sicher wissen können, ist nur die messbare Welt. Dieser Trend geht auf die Naturalistische Strömung (ab Mitte 19. Jahrhundert) zurück. Darwin hatte gerade die Theorie aufgestellt, dass der Mensch “ganz natürlich” entstanden sei; Gott und all die übernatürlichen Phänomene brauchte es nicht mehr, nun war alles erklärbar. Naturalismus wird in Sofies Welt so erklärt:

Unter ›Naturalismus‹ verstehen wir dabei eine Wirklichkeitsauffassung, die außer der Natur und der wahrnehmbaren Welt keine weitere Wirklichkeit akzeptiert.

Was mich überraschte ist, dass es diesen Trend schon bei den griechischen Philosophen gab: Schon Aristoteles stellte die Theorie auf, dass ein Kind mit Nichts in die Welt kommt und alles nur über seine Sinne erfährt. Diese Beschränkung der Welt auf das Wahrnehmbare ist also keine “Errungenschaft” der letzten Jahrhunderte, es ist kein Fortschritt aus dem rückschrittlichen Mittelalter, es ist bloss einfach eine Modeerscheinung, welche wieder vorbei gehen wird. Ich finde diese Erkenntnis heilsam, denn es zeigt, dass die Menschheit immer mal wieder in dieses Extreme “es gibt nur, was ich sehe” fällt.

Das Paradoxe an der Geschichte der Philosophie ist, dass sie bei Fragen wie “woher komme ich” anfing, nun aber bei der Teilchenphysik angelangt ist und dabei von der ursprünglichen Frage völlig abgeirrt ist. In “Sofies Welt” wird das schön beschrieben, als die beiden Hauptfiguren vor einem Büchergestell voller Esoterik-Literatur stehen: Da die heutige Philosophie die Fragen der Menschen nicht mehr beantwortet, sucht die Menschheit ihre Antworten halt woanders, nämlich in der Ufologie, im Pendeln, in der Ernährung, oder eben hoffentlich bei Gott.

Das Gegenmittel: Um die verfärbende Brille abzunehmen, hilft eine gute Dosis Descartes: Was er macht ist Folgendes: Fangen wir damit an, was wir wirklich, wirklich sicher wissen können. Die Welt um uns herum könnte Trug sein, auch wenn sie sehr real erscheint. Schliesslich wirken auch Träume sehr real. Auf was können wir aber sicher vertrauen? Auf unser Bewusstsein! Was ich sicher weiss, ist, dass es mich gibt, und dies merke ich, indem ich darüber nachdenken kann. So ist sein berühmtestes Zitat zu verstehen: “Ich denke also bin ich” (cogito ergo sum). Nun ist die Frage, woher dieses Bewusstsein kommt, und diese Frage beantwortet die Bibel, indem sie erklärt, dass wir nach dem Bild Gottes geschaffen wurden.

Woher kommt die Über-Sexualisierung?

Von Sigmund Freud. Er hat behauptet: Wer die Sexualität “unter dem Deckel” hält, lässt sie immer grösser werden. Nach und nach wird sie sich ausbreiten, bis sie überall zum Vorschein kommt: in Träumen, in “Versprechern” bei Gesprächen, etc. Letztlich führe die Unterdrückung der Sexualität zu Psychosen. Er hat behauptet, dass die Gesellschaft die Sexualität bändigen kann, wenn sie ihren sexuellen Trieben mehr Raum gibt. So wie man ein wildes Tier zufriedenstellen kann, wenn man es aus dem Zwinger lässt und ihm ein grösseres Gehege gibt.

Doch die Geschichte hat gezeigt, dass die Sexualität sich so nicht bändigen lässt. Das wilde Tier gibt sich mit dem grösseren Gehege nicht zufrieden. Im Gegenteil: Es wird zum Monster, das immer stärker wird und das immer mehr Freilauf fordert. Über viele Jahrzehnte wird nun der Sexualität grössere und grössere Gehege gegeben, angefangen bei Sex vor der Ehe, weiter bei Seitensprüngen, Prostitution, Pornografie, was nicht stört ist auch erlaubt. Doch irgendwann sollte der Hunger doch mal gestillt sein, oder? Wer mehr und mehr isst, bei dem sollte doch irgendwann mal die Sättigung einsetzen, nicht? C.S. Lewis beschreibt die Situation gut (aus “Mere Christianity” – “Pardon ich bin Christ”):

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Mit Striptease-Vorstellungen, also damit, dass sich ein Mädchen auf der Bühne auszieht, kann man großes Publikum anlocken. Nehmen wir aber einmal an, wir kämen in ein Land, wo man ein Theater damit füllen könnte, dass jemand eine zugedeckte Platte auf die Bühne trägt und dann langsam den Deckel abnimmt, so dass jedermann — kurz bevor das Licht ausgeht — sehen kann, dass ein Hammelkotelett oder ein Stück Speck auf der Platte liegt. Würden wir nicht annehmen, dass in diesem Land mit dem Appetit der Leute etwas nicht in Ordnung ist? Und würde nicht jemand aus einer anderen Welt von uns annehmen müssen, dass es um unseren Geschlechtstrieb nicht sehr viel anders bestellt ist?

Woher kommt die Ansicht, dass es keine absolute Wahrheit gibt?

Der Trend: Wir leben in einer Welt voller Individualisten, in der jeder meint, er wisse selbst am Besten, was recht ist. Die scheinbare Lösung: Statt auf Konfrontation zu gehen ist der friedlichste Weg einfach alle mit ihren Behauptungen stehen zu lassen und zu behaupten es gäbe gar keine absolute Wahrheit. Dieser Trend geht auf Hegel zurück, der beobachtete, dass sich philosophische Überzeugungen von Generation zu Generation verändern. Er behauptete, dass die Lebensanschauungen der Welt sich immer weiter entwickeln (Fortschrittsglaube). Ein Zitat über Hegel aus Sofies Welt:

Weil den Menschen immer wieder Neues einfällt, ist die Vernunft ‚progressiv‘. Das heißt, die menschliche Erkenntnis schreitet immer weiter fort und mit der Menschheit insgesamt geht es entsprechend ‚vorwärts‘.

Hegel meint: Wenn die Menschheit sich immer weiter entwickelt, dann wird auch unsere Ansicht früher oder später überholt sein. Wir sind nur ein Baustein eines grossen Gebäudes, unsere Überzeugungen haben also primär gar keine grosse Relevanz für unseren Alltag, sondern sind hauptsächlich als kleiner Fortschritt der Menschheitsgeschichte zu verstehen.

Das Gegenmittel: Um diese verfärbende Brille abzunehmen, hilft eine Dosis Kierkegaard: Er hat bemerkt, dass die Philosophie Hegels dazu führt, dass Menschen für ihr Leben keine Verantwortung mehr annehmen: »Ich lebe halt heute, da handle ich so. Lebte ich früher, dann würde ich mich anders verhalten«. Er kritisiert, dass die Philosophie nur noch betrachtend ist und nicht (wie bei Kant) eine Richtschnur für unser Leben.

Insgesamt empfand ich die Philosophie von Kierkegaard als die heilsamste für unsere Zeit: Der heutige Relativismus (=Toleranz) ist enorm bequem: Mein Nachbar verhält sich komisch? Wenn “es für ihn stimmt” dann darf ich mich doch gar nicht einmischen.. Kierkegaard ruft auf zum Handeln, zum unbequemen Stellung beziehen, zu Konflikten:

In der modernen Stadtgesellschaft sei der Mensch ›Publikum‹ oder ›Öffentlichkeit‹ geworden, meinte Kierkegaard, und das erste Kennzeichen der Menge sei das viele unverbindliche ›Geschwätz‹
Heute würden wir vielleicht das Wort ›Konformität‹ verwenden, das heißt, dass alle dasselbe ›meinen‹ und ›vertreten‹, ohne dass irgendwer ein leidenschaftliches Verhältnis dazu hat.«

Woher kommt “erlaubt ist, was nicht stört”?

Das Credo heute: Solange es niemanden stört ist es ok. Hauptsache, er ist glücklich, es “stimmt für ihn”. Das höchste Gut der modernen Zivilisation ist die Freiheit vor Moral-Massstäben. Gut sichtbar ist das z.B. beim Thema Pornografie: Obwohl der Konsum davon Ehen zerstört und die Porno-Akteure ins Elend (z.B. Drogenkonsum) stürzt, greift niemand ein. Der Grund: Niemand wird zu diesem Handeln gezwungen, die Menschen sind für sich selbst verantwortlich und wer weiss, vielleicht schadet es ihnen ja doch nicht, obwohl alle Anzeichen dies andeuten.

Woher kommt dieser Verlust an Sinn und Moral? Ein bekannter Verkündiger dieser Philosophie ist Jean-Paul Sartre (20. Jahrhundert). Er entwickelte die einzig schlüssige Antwort auf Darwin und die Urknalltheorie: Wenn der Mensch nicht von einem Gott erschaffen wurde, wenn die ganze Evolution sowieso irgendwann wieder in einem weiteren Urknall wiederholt werden soll, dann hat seine Existenz keinen Sinn. Er schuf das “absurde Theater”, in Sofies Welt wird das so beschrieben:

Dem ›absurden Theater‹ – oder ›Theater des Absurden‹ – ging es darum, die Sinnlosigkeit des Daseins zu zeigen. Man hoffte, das Publikum werde dann nicht nur zuschauen, sondern auch reagieren. Es war also nicht das Ziel, die Sinnlosigkeit etwa zu verherrlichen. Im Gegenteil: Durch Darstellung […] von ganz alltäglichen Ereignissen […] sollte das Publikum gezwungen werden, über die Möglichkeiten eines echteren und eigentlicheren Daseins nachzudenken.

Das Gegenmittel: Soweit ich verstanden habe, ist diese Philosophie der “Sinn- und Morallosigkeit” bisher in der Weltgeschichte noch nie so aufgetreten. Daher gibt es auch keine Philosophen, an die wir uns für eine Antwort wenden könnten. Jonas Erne hat mich darauf hingewiesen, dass zur Zeit der griechischen Philosophen schon mal eine ähnliche Situation herrschte: Die Sophisten stürzten die Welt in den Relativismus und erst Sokrates, Platon und Aristoteles glaubten wieder an eine “absolute Wahrheit” und den daraus folgenden moralischen Ansprüchen.

Parallel dazu haben wir heute die Agnostiker welche aus der Postmoderne entstanden sind. Sie sagen: “wir können es eh nicht herausfinden, darum versuchen wir es gar nicht erst”. Und die Gegenströmung dazu entsteht mit dem “Neuen Atheismus”, der wieder an eine absolute Wahrheit glaubt und z.B. behauptet, dass man wissenschaftlich herausfinden kann, wie die Welt entstanden ist. Darauf aufbauend haben die “Neuen Atheisten” einen eigenen Moral-Anspruch, der sich zwar dem christlichen widersetzt aber zumindest logisch herleitbar ist. Daher ist es eigentlich einfacher mit Atheisten zu diskutieren als mit Agnostikern.

Die Gefahr in den Diskussionen mit Atheisten ist aber, dass man mit der Moral anfängt. Das ist nicht zielstrebig. Wenn ich z.B. jemandem versuche zu erklären, dass Pornografie der Ehe schadet, so wird die Antwort sein, dass doch eine “gesunde, freie Sexualität” der Person selbst gut tut, und die Ehe an sich ist nur dann schützenswert, wenn sie auch funktioniert, und dies ist nur dann der Fall, wenn beide ihre Sexualität frei ausleben dürfen. Die Argumentationen sind schlüssig, wenn man davon ausgeht, dass es keinen Schöpfer gibt, der gewisse Spielregeln festgelegt hat und Menschen dafür belohnt, wenn sie sich an die Spielregeln halten. Darum sind Diskussionen um Sexualität (insbesondere auch Homosexualität) zwischen Christen und Nicht-Christen nur vergeudete Zeit, da beiden Parteien von einem ganz anderen Weltbild ausgehen. Die Zeit wäre besser investiert in der Diskussion darüber, ob die Welt geschaffen wurde oder nicht.

Woher kommt der Glaube, dass uns Wissen zu besseren Menschen macht?

Von der Aufklärung. Seither lautet die gängige Annahme: Bildung löst die Probleme der Menschheit. Wenn nur alle Menschen Zugriff auf das Wissen der Menschheit hätten, dann wären alle Probleme gelöst. In Sofies Welt wird das so beschrieben:

»Wenn Vernunft und Wissen sich erst ausgebreitet hätten, meinten die Aufklärungsphilosophen, dann würde die Menschheit große Fortschritte machen. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würden Unvernunft und Unwissen verschwunden und eine aufgeklärte Menschheit da sein. Dieser Gedanke hatte in Westeuropa bis vor einigen Jahrzehnten fast schon ein Monopol. Heute sind wir nicht mehr so sehr davon überzeugt, dass immer mehr Wissen zu immer besseren Zuständen in der Welt führt. Diese Kritik der ›Zivilisation‹ wurde allerdings auch schon von den französischen Aufklärungsphilosophen selber vorgebracht.«

Tatsächlich profitieren viele Bereiche von einer Verbreitung des Wissens: Gesundheit, Lebensumstände, etc. haben sich dank dem Gedankengut der Aufklärung massiv verbessert. Doch ausserhalb dieses wissenschaftlichen Bereiches bietet blosses Wissen keinen wesentlichen Beitrag. Immer noch erwartet die Welt die “Lösung aller Probleme” aus der Wissenschaft: Welthunger, Frieden, glückliche Menschen, all das sind immer wieder Themen von TED-Talks in der Hoffnung, dass Forschung und Informations-Verbreitung die Probleme lösen würden. Aber diese Probleme werden so einfach nicht gelöst, da sie nicht wissenschaftlicher Natur sind. Die Blindheit über die Grösse des “ausser-wissenschaftlichen Bereiches” ist frappant.

In Sofies Welt wird dieses Dilemma so beschrieben:

Aber wenn wir uns fragen, woher die Welt stammt – und also mögliche Antworten diskutieren –, dann läuft die Vernunft gewissermaßen im Leerlauf. Dann kann sie nämlich kein Sinnesmaterial ›bearbeiten‹; sie hat keine Erfahrungen, an denen sie sich reiben kann. […] Es ist genauso sinnvoll zu sagen, die Welt muss einen Anfang in der Zeit haben, wie zu sagen, dass sie keinen solchen Anfang hat. Die Vernunft kann zwischen den beiden Möglichkeiten nicht entscheiden, weil sie sie beide nicht ›fassen‹ kann.

Da man nicht “beweisen” kann, welche Religion nun recht hat, dann nimmt man die Toleranz-Keule und sagt “alle haben recht und keiner hat recht” und schweigt einfach darüber und lässt die Menschen im Ungewissen, gerade bei den relevantesten Fragen.

Das Gegenmittel: Die einzige Lösung zu diesem Dilemma kann nur “von Aussen” kommen. Vom Schöpfer, von dem, der uns ins Leben gerufen hat. Es muss über eine göttliche Offenbarung passieren. Und diese Offenbarung kann man dann selbst mit “wissenschaftlichen Methoden” prüfen, sprich es muss geschichtlich, archäologisch, etc. schlüssig sein. Dies trifft auf das Christentum zu, daher finde ich das Thema “Apologetik” spannend, da es genau diese Brücke zwischen Wissenschaft und Glaube schlägt.

Der M’Cheyne Bibelleseplan ist einer der populärsten Bibelleseplänen. Innerhalb eines Jahres liest Du das AT einmal und NT+Psalmen zweimal.

Ich wollte die Bibel anhand dieses Plans lesen, habe aber keinen Plan gefunden mit dem man mitten im Jahr starten kann. Daher habe ich ein kleines Tool erstellt mit dem man das Anfangsdatum wählen kann: M’Cheyne Bibelleseplan mit beliebigen Anfangsdatum

Wähle das Startdatum aus, dann drucke die Seite aus (im Landscape Format). Der Plan sollte auf einer A4-Seite Platz haben.

Auf hanniel.ch läuft zurzeit eine tolle Serie mit Gastbeiträgen zum 5-jährigen Bestehen seines Blogs. Ich kannte Hanniel nur über Twitter/Facebook, er war es aber, der uns vor 3 Jahren die Pfingstgemeinde in Kloten empfohlen hatte, die unsere Heimatgemeinde wurde. Als er mich um einen Gastbeitrag bat, sagte ich sofort zu.

Der Beitrag handelt von Narzissmus unter Christen und wie wir der Narzissmus-Falle entkommen können. Zwei Zitate aus dem Blogpost:

Heutzutage, wenn ein Christ Schwierigkeiten hat in seiner Gemeinde, dann hält er keine zehn Jahre aus. Er sagt sich: »Wenn ihr so mit mir umgeht, dann gehe ich halt!«, und schon ist er in einer anderen Gemeinde. Der Grund ist, dass die heutige Generation grosse Mühe hat, mit Kritik umzugehen. Sie erwartet, dass die Gemeinde einen konstanten Fluss an Lob und Mitgefühl aufbringt. Versiegt diese Quelle, wird eine neue Gemeinde gesucht, in der Hoffnung, die Quelle sei da vorhanden.

[Der Narzisst] richtet sich mit seinem Wollen und Nichtwollen nach den Reaktionen anderer und weiß am Ende gar nicht mehr, wer er wirklich ist und was er will. Ein Prediger/Worship-Leiter, der so endet, ist bloss noch ein Echo der Erwartungen der Gemeinde.

Ganzer Beitrag: Hier.

Auch die anderen Beiträge von ihm sind sehr zu empfehlen. Ich lese seinen Blog immer wieder mal intensiv, vergesse ihn dann wieder, komme aber nach ein paar Monaten immer wieder darauf zurück.

Chesterton: Ketzer – ein Aufruf zum scharfsinnigen Denken

G.K. Chesterton (1874 – 1936) war ein Phänomen. Ich habe noch niemanden gelesen, der so konsequent jeden Gedanken umdreht: Mit einer Leichtigkeit ergreift er Behauptungen, welche eigentlich jeder richtig findet, wendet sie vor und zurück und, was vorher mir vorher logisch erschien, erscheint plötzlich völlig absurd! Und dabei schreibt Chesterton witzig, schlicht und niemals ironisch.

Chesterton war als Jugendlicher Agnostiker, ist dann zum Christentum konvertiert und trat am Schluss seines Lebens der katholischen Kirche bei. Er war wohl ziemlich einseitig begabt. Einige Male hat er auf Reisen seiner Frau telegrafiert mit der Frage, wo er nun eigentlich hinsollte (sie hat dann jeweils geschrieben: “Home!”). Er war ein Denker, ein Tagträumer. Solche Menschen finde ich sympathisch, vielleicht, da mir mein Englischlehrer das Gleiche vorwarf. “Philipp, are you with us?” hat er gefragt, wenn ich mal wieder einem Gedanken nachjagte.

Das Buch “Ketzer: Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit” war nun das erste Buch, das ich von ihm las (auf Empfehlung von Hanniel). Ich denke, es wird nicht das Letzte sein. Denn Chesterton greift Denkfehler an, welche sich langsam in die Gesellschaft einschlichen. Was mich eigentlich überraschte: Neun Kapitel widmete er zeitgenössischen Schriftstellern und ihren Denkfehlern. Die Schreiber sind heute allesamt nicht mehr bekannt (jedenfalls mir nicht), aber ihre Denke hat hundert Jahre überlebt - in einigen Fällen haben sie sich sogar noch ausgeweitet und sich zu regelrechten Monstern entwickelt.

Ich habe fünf seiner philosophischen Kunststückchen herausgerissen und gebe ein paar einprägsame Zitate wieder - ich hoffe, dass dem einen oder anderen Leser der Reichtum seiner Gedanken erschließt.

These der Gegner: Ernst ist das Gegenteil von Spaß

Selbstporträt von Chesterton basierend auf dem Slogan 'Drei Acker und eine Kuh'

Chestertons Bücher sind voll von Witz, oftmals subtil. Oft treibt er einen Gedanken der Gegner auf die Spitze, um zu zeigen, wie absurd er ist. Seine Gegner warfen ihm vor, seine Sache nicht ernst zu nehmen. Chestertons Antwort (S. 190):

Aber unbegreiflich ist mir, wie jemand, der sich ernsthaft mit der Gesellschaft befasst, zu der Annahme kommt, er könne die Gedankenlosigkeit unserer Generation mit verkrampften Paradoxa heilen.

Wenn [jemand] denkt, ich meinte nichts ernst, sondern machte nur Spaß, so deshalb, weil [er] denkt, Spaß sei das Gegenteil von Ernst. Spaß ist das Gegenteil von Nicht-Spaß und sonst gar nichts. […] In Wahrheit haben Spaß und Ernst nicht das geringste miteinander zu tun und haben nicht mehr Ähnlichkeit miteinander als Merkmale wie schwarz und dreieckig.

Er vergleicht die Absicht eines Witzes - nämlich zu überraschen - mit der Erwartung an einen Propheten oder Lehrer:

Jedenfalls erwarten wir, wenn wir einem Propheten oder einem Lehrer zuhören, nicht unbedingt Esprit oder Eloquenz, aber immer etwas, was wir nicht erwartet haben.

Was das für mich bedeutet: Niemand wird gerne gelangweilt.
Ich fühle mich herausgefordert das Evangelium nicht “trocken” zu verkündigen, sondern immer wieder neue Formen und Wege zu finden, es zu verkündigen. Einen eigenen Stil zu finden empfinde ich dabei die größte Herausforderung.

These der Gegner: Die Menschheit ist fortschrittlich

Die gängige Ansicht: Die Aufklärung hat eine Alternative geschaffen zum Glauben der Religion: Der Mensch wird immer selbstständiger, es steht ihm immer mehr Wissen zur Verfügung, er entwickelt sich immer weiter. Dabei ist ihm der Glaube an eine Morallehre immer weniger wichtig, wichtiger ist der “gesunde Menschenverstand”; dies ist gleichbedeutend mit einer Freiheit von Dogmen.

Chestertons Antwort (S. 34):

Recht verstanden, hat Fortschritt tatsächlich eine höchst erhabene und legitime Bedeutung. Aber als Gegenbegriff gegen inhaltliche moralische Ideen verstanden, ist das Wort lächerlich. […] Schon der Name »Fortschritt« deutet auf eine Richtung hin; sobald wir an dieser Richtung im Mindesten zu zweifeln beginnen, wird uns im gleichen Maße der Fortschritt zweifelhaft.

Nicht nur ist das Zeitalter mit der geringsten Klarheit darüber, was Fortschritt ist, unser »Zeitalter des Fortschritts«. Mehr noch ist Tatsache, dass die Menschen, die am wenigsten wissen, was Fortschritt ist, die »progressivsten« Menschen in unserem Zeitalter sind.

Ich behaupte also nicht, dass dem Wort »Fortschritt« keine Bedeutung zukommt; ich behaupte nur, dass es ohne Bedeutung bleibt, wenn nicht zuvor die Morallehre feststeht.

In der Tat ist es heutzutage fortschrittlich, einfach immer mehr Moral fallen zu lassen: Tu, was den anderen nicht stört und gut ist. Chesterton an einer anderen Stelle (S. 234)

Lässt [der] ausgefuchste Skeptiker eine Lehre nach der anderen fallen; sieht er sich in Gedanken als Gott, der selbst keinerlei Glauben hat, aber auf alle Religionen hinabblickt - dann sinkt er nach und nach zurück in die Unentschiedenheit der streunenden Tiere und die Bewusstlosigkeit der Gräser. Bäume haben keine Dogmen. Rüben sind extrem weitherzig.

These der Gegner: Massen-Zeitungen sind politisch motiviert

Die gängige Ansicht ist, dass Tageszeitungen mit großer Auflage (besonders Gratiszeitungen) die Bevölkerung “umpolen”, dass sie zu viel Macht hätten, etc.

Chesterton kontert (S. 100):

[Das] wirkliche Gebrechen [der Sensationspresse] besteht nicht darin, dass es über die Stränge schlägt, sondern dass [sie] unerträglich zahm ist. Das ganze Ziel ist es, sich im Rahmen eines gewissen Erwartungshorizontes und einer gewohnten Gemeinplätzigkeit zu halten.

Sprich: Die Presse kann sowieso nur das schreiben, was alle denken, sonst würde sie sich nicht verkaufen. Daher ist das Diktat nicht bei der Zeitung, sondern beim Volk. Also muss man die Gründe der “Volksverführung” nicht bei den Zeitungen suchen, sondern woanders. Denn die Zeitungen haben keinesfalls die Absicht große Revolutionäre zu sein, sondern sind gefangen in der Mittelmäßigkeit: (S. 104)

Jeder noch so kluge Mensch, der damit beginnt, den Erfolg zu verherrlichen, muß in reinem Mittelmaß enden. […] Der Kult um den Erfolg ist der einzige unter allen Kulten, von dem sich mit Fug und Recht sagen läßt, dass seine Anhänger dazu verdammt sind, Sklaven und Feiglinge zu werden.

Was das für mich bedeutet: Ich sehe mir die Tageszeitungen nicht als bestimmende Quelle an, sondern als Spiegel der Gesellschaft, als Zeugnis der “herrschenden Verhältnisse”. Trotzdem geht natürlich von ihnen eine Gefahr aus für uns Christen (insbesondere für meine Kinder), da sie unser Denken infiltriert (Röm 12,2).

These der Gegner: Schlussendlich können wir nur der Vernunft trauen

Die Aufklärung brachte uns das Diktat der Vernunft. Wem sollen wir trauen wenn nicht unserem eigenen logischen Denken? Sogar Christen blieben von diesem Gedankenmodell nicht verschont. Rechts ein Bild von Bill Bright das behauptet, dass dem Glauben selber das Kennen der Fakten (also die Vernunft) vorangehe. Ich kann mich gut erinnern, als mir das jemand in meinen ersten Monaten als Christ gezeigt hat und ich dieses Verständnis jahrelang nicht hinterfragt hatte.

Doch dieser Fokus auf die Vernunft ist im Grunde genommen der Kerngedanken der Heiden, aber das Ziel der Christen ist ganz ein anderer. Chesterton dazu (S. 139/140)

die heidnische Tugenden [sind] vernünftig, die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hingegen im Kern denkbar unvernünftig.

Da das Wort »unvernünftig« durchaus mißverstanden werden kann, wäre es vielleicht korrekter zu sagen, dass jede dieser christlichen oder mystischen Tugenden ein Paradox einschließt, während das für die typisch heidnischen oder rationalen Tugenden nicht gilt:

Christliche Nächstenliebe heißt etwas zu verzeihen, was unverzeihlich ist, sonst wäre sie gar nicht erst eine Tugend. Hoffnung heißt hoffen, wenn alles hoffnungslos ist, sonst wäre es keine Tugend. Und Glaube heißt das Unglaubliche glauben, sonst wäre auch er gar keine Tugend. […]

Als gar nicht schick gilt der Glaube, und von allen Seiten wird ihm regelmäßig vorgehalten, er sei ein Paradox.

Und dieser Glaube ist der Welt ein Ärgernis (Paradoxon), weil es sich so gar nicht mit der Vernunft vereinbaren lässt.

In eine ähnliche Kerbe schlägt er, als aufzeigt, dass sich Fortschritt nicht mit selbstständigem Denken vereinbaren lässt. Mir fiel es wie Schuppen vor den Augen, ja klar, das sind ja entgegengesetzte Kräfte! (S. 149):

Ich weiß nicht, was für ein unglaublicher Denkfehler heutige Autoren dazu bringt, die Idee des Fortschritts so beharrlich mit der Idee des selbstständigen Denkens zu verknüpfen. Fortschritt ist unverkennbar das gerade Gegenteil des selbstständigen Denkens. Denn jeder selbstständig und individuell Denkende beginnt ganz von vorn und gelangt aller Voraussicht nach nicht weiter als sein Vater vor ihm.

Was das für mich bedeutet: Ich glaube Vernunft ist wichtig, Gott gebietet uns zum Nachdenken. Aber die Vernunft ist weder der Treiber (der Mensch will von sich aus nicht zum Licht) noch das Ziel (das Ziel ist Glaube, Liebe, Hoffnung), sie ist nur der Mittel zum Zweck.

These der Gegner: Der Sinn des Lebens ist sowieso unklar. Die richtige Antwort darauf ist Skeptizismus

Meine Erfahrung: je intellektueller das Umfeld, desto skeptischer und beißender sind die Witze. Ich habe früher gerne Reddit gelesen, bis ich es nicht mehr ausgehalten hatte, dass einfach alles zerrissen wird. Der Skeptizismus fing schon zu Chestertons Zeit an sich auszubreiten. Seine Antwort darauf ist eine treffende Beschreibung der Welt des 20/21. Jahrhunderts: (S. 196)

Unser Einspruch gegen den Skeptizismus lautet, dass er dem Leben jede Triebkraft nimmt. Der Materialismus ist keineswegs etwas, das dem Zwang ein Ende macht. Er ist selber der große Zwang.

Und weiter (S. 145):

Der Urfluch aller Geschichte hat uns die Neigung beschert, der Wunder müde zu sein. Sähen wir die Sonne zum ersten Mal, dann wäre sie der furchtbarste und schönste Meteor überhaupt. […] wir neigen dazu, unsere Ansprüche immer höherzuschrauben.

Und weiter (S. 122):

Aber [wenn] gleichermaßen die Furcht, das Staunen und die Fröhlichkeit abgeht, [damit] will ich nichts zu tun haben.

Und nirgends ist das Kind so wahrhaft kindlich, […] dass es alles, selbst die komplizierten Dinge, mit schlichtem Vergnügen gewahrt.

Was das für mich bedeutet: Ich will nicht “sitzen, wo die Spötter sitzen” – denn der Einfluss einer skeptischen, ironischen Atmosphäre wirkt lähmend auf mich und die Familie. Von meinen Kindern kann ich von dieser “Schlichtheit des Herzens” lernen.

Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Wie narzisstisch bin ich selbst?

Das Buch “Die narzisstische Gesellschaft” von Hans-Joachim Maaz ist zwar kein christliches Buch, aber die Beschreibung hat mich sofort angesprochen:

Der narzisstische Mensch ist im Kern ein um Anerkennung ringender, stark verunsicherter Mensch. So tut er alles, um die Bestätigung, die er zum Leben braucht, zu erhalten. Diese narzisstische Kompensation bedarf ständig erweiterter Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion.

Seit ein paar Monaten bin ich immer wieder über den Begriff “Narzissmus” gestolpert und wollte prüfen, wie es denn bei mir steht. Tief drin schlummerte der Verdacht, dass ich ein Narzisst inmitten von lauter Narzissten bin. Ich wollte wissen: Wie sehr definiere ich mich durch meine Umgebung?

Ja, ich gestand mir ein, dass mir die Traffic-Zahlen meines Blogs (zu) wichtig sind. Und auch, dass ich (allzu sehr) wissen wollte, was andere in der Gemeinde über mich denken. Aber so sind doch alle, nicht? Daher kann es nicht so schlimm sein, oder? Doch! Wenn nämlich der Grossteil meiner Mitmenschen ebenfalls vom Narzissmus befallen ist, und genau das ist Maaz’ Aussage:

Ich spreche auch von der großen Zahl von Menschen, die gut angepasst an die Verhältnisse und Erwartungen ihrer Umwelt relativ unauffällig, eigentlich normal und ganz anständig leben […]. Die Grenzen zwischen «noch normal» und «schon pathologisch» sind fließend, und durch das, was «alle» machen, ist ihre Bewertung verzerrt. So kann die Mehrheit einer Bevölkerung extrem selbstentfremdet und hochpathologisch leben, ohne dass das wahrgenommen wird, weil eben «alle» so sind.

Oha! Das heisst: Die Welt um mich herum ist narzisstisch und verführt mich dazu, auch so zu sein wie sie. Könnte daher “stellt Euch nicht dieser Welt gleich“ für mich heute heissen, aus der Welt des Narzissmus auszubrechen?

Ist das Buch empfehlenswert?

Hans-Joachim Maaz ist Psychotherapeut und hat 34 Jahre Erfahrung mit Neurologie und Psychiatrie. Das Buch ist daher ein “Heimspiel”. Die Beschreibungen, was Narzissmus ist und welche Auswirkungen und Gesichter diese Störung hat, waren sehr aufschlussreich. Bestechend ist auch die Beschreibung der westlichen Welt, die in ihrem Konsum gänzlich in den Mechanismen des Narzissmus gefangen ist.

Das Buch empfand ich aber als zu langfädig; einige Ausführungen kamen mehrmals vor. Ich denke das Buch liesse sich auf die Hälfte reduzieren, ohne an Inhalt einzubüssen. Wer das Buch lesen will, empfehle ich mit dem Epilog zu beginnen (Maaz’ persönliche Geschichte) und dann nur die Kapitel 1, 2, 4, 5, 6, 8, 11, 18, 21, 22, 25 zu lesen.

Was habe ich gelernt?

  • Narzissmus kommt von einem Liebes-Mangel in der Kindheit (Wunde).
  • Narzissmus ist die Verdrängung dieser Wunde, die viele Formen annehmen kann (Geschäftigkeit, ständiger Konsum, social Media ist eine Form davon, Krieg ein anderer): »[…] begünstigt eine Gesellschaft mit aktionistischer, ruheloser Geschäftigkeit und ablenkender Reizüberflutung, um Erkenntnis zu verhindern«.
  • Es gibt zwei Typen von Narzissten:
    • Grössenselbst-Narzissten holen ihren Kick aus dem Lob ihrer Mitmenschen. Das sind die Karrieretypen, welche nur deshalb Karriere machen, um von ihrer Umwelt geachtet zu werden. Es geht ihnen nicht um die Sache, sondern um sich selbst.
    • Grössenklein-Narzissten empfinden sich als Opfer ihrer Umwelt und holen ihre Nahrung dadurch, dass sie von anderen bemitleidet werden. Sie wollen keine Lösungen für ihre Probleme, da sie sonst keinen Grund mehr hätten, um bemitleidet zu werden.
  • Diese beiden Typen funktionieren am Besten in einer Wechselwirkung:
    • Unterhaltungs-Industrie: Der Star (Grössenselbst) lebt durch das Zujubeln der Menge (Grössenklein), die ein Idol brauchen, da ihr eigenes Leben sinnlos ist: »Der Fan meint nicht den Bewunderten, sondern er braucht und benutzt den Anerkannten, um sich selbst mit dessen Erfolgen aufzuwerten«.
    • Paar-Beziehung: Er (Grössenselbst) macht Dinge nur um von ihr (Grössenklein) gelobt zu werden. Beispiel: Helmut+Hannelore Kohl
    • Beide Parteien haben Interesse am Aufrechterhalten dieses Systems, darum wollen beide das System am Leben erhalten (daher glaubt Maaz auch nicht, dass sich die narzisstische Gesellschaft jemals selbst heilen wird, da sie es schlicht nicht will).
  • Ist die Menschheit seit dem 2. Weltkrieg besser geworden? Nein, es wurden nur die Fahnen gewechselt: Hitler (Grössenselbst) wurde vom Volk (Grössenklein) verehrt und Deutschland (Grössenselbst) lebte ihren Narzissmus durch Krieg aus. Seither wird der Narzissmus durch Konsum genährt. »Es darf nur nicht der Strom ausfallen oder der Zugang zu den “Spielen” nicht zu teuer werden, sonst bricht das gesellschaftlich aufgebaute und kollektiv genutzte Abwehrgebäude zusammen, und die Ablenkungsenergie wird sich dann in aller Regel destruktiv austoben«.
  • Unsere Wirtschaft ist ganz auf die “Gier” der Menschen ausgerichtet: die Gier und die Möglichkeit Schulden aufzunehmen ist der Treiber allen Wirtschaftswachstums: »Die Gier ist das narzisstische Symptom der Wachstumssucht, mit der Konsequenz, dass ein anderes Gesellschaftsmodell, das ohne materielles Wachstum auskäme, gar nicht für möglich gehalten wird – ähnlich wie bei Drogensüchtigen, die sich ein abstinentes Leben gar nicht mehr vorstellen können«.
  • Eine Erziehung mit Lob und Tadel fördert den Narzissmus der Kinder (sie tun Dinge nur, um den Eltern zu gefallen).
  • Ein narzisstischer Mensch ist grundsätzlich “willenlos”, denn er orientiert sich nur an seinem Mitmenschen: »Er richtet sich mit seinem Wollen und Nichtwollen nach den Reaktionen anderer und weiß am Ende gar nicht mehr, wer er wirklich ist und was er will«.

Was ich im Buch vermisst habe

  • Maaz eröffnet das Buch mit der griechischen Sage des Narziss, aber es fehlt dann der Schluss, dass das Problem schon immer bestand. Denn Kinder haben die Wunde von ihren Eltern. Aber ihre Eltern haben ihrerseits diese Wunde. Das Problem ist, dass wir alle in eine sündige Welt hineingeboren wurden (Erbsünde).
  • Maaz geht praktisch nicht auf Social Media ein. Er ist auch schon über 60, daher kam er wohl damit nicht wirklich in Kontakt.
  • Ebenfalls hätte ich mir eine etwas tiefere Analyse der Unterhaltungsindustrie (Fernseher, Tageszeitung, Internet) gewünscht.
  • Wenn Lob und Tadel den Narzissmus meiner Kinder und Mitmenschen fördern, wie kann ich ihnen dann Feedback geben?

Ich habe gestern Klaus Bergers Buch “die Bibelfälscher” fertig gelesen. Die ersten 80% des Buchs sind eine “Kritik an der Kritik”: Er kritisiert jene Kritiker, welche an der Echtheit der Bibel zweifeln. Er und seine Frau haben die das Neue Testament auf Deutsch übersetzt und dabei hat er sich intensiv mit dem Text auseinandergesetzt. Das letzte Kapitel war eine Überraschung für mich: Klaus Berger beschreibt, was ihn an der Bibel fasziniert. Er wird plötzlich sehr persönlich, einige Abschnitte sind sogar als Gebet formuliert. Einige Zitate:

Martin Luther wusste, was es heißt, zu beten. Immer wieder hat er die Psalmen gebetet. […] Wenn ich nachts aufwache, tue ich dasselbe. Ich nehme mir meinen Psalter und bete.

Und weiter schreibt er darüber, dass die Bibel oft so schwer zugänglich ist:

Wenn unser Religionslehrer auf dem Gymnasium zornig wurde, schlug er mit seiner Bibel auf das Pult, und zu unserer großen Freude gab das alte Buch unbegrenzt und immer wieder neu Wolken von Staub von sich. Das bestätigte unser Urteil: Wie verstaubt ist die Bibel wirklich! […]
Mit der Bibel ist es wie mit der Wüstenstadt Petra: zunächst nur Staub, Hitze und Sand, die nach Mühsal riechen. Und dann steht man plötzlich in einer Schlucht, an deren Ausgang leuchtend in rosa Sandstein ein völlig erhaltener antiker Tempel aufstrahlt.

Berger tritt sehr stark dafür ein, an die Bibel ohne Ideologien heranzutreten, da man sonst unweigerlich Teile der Bibel auslässt oder sie so verbiegt, bis sie seinem Weltbild entsprechen:

In der Bibel steht beides: »Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Wer nicht sammelt, der verstreut. Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« Und auch das andere: »Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.« In der Bibel steht beides: »Gott ist die Liebe«, und: »Wer seine Familie und sich selbst nicht hasst, der kann nicht mein Jünger sein.« Es wird auch beides berichtet, dass Jesus sich nicht wehrt und dass er die Händler aus dem Tempel mit Gewalt vertreibt. Es gehört Weisheit dazu, diese Gegensätze zu ertragen. […]

Und wenn man fragt, wer ist Gott, dann muss man so lange auf sein Wort hören oder vor ihm knien, bis er selbst zu sprechen beginnt.

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