Buchbesprechung: Die narzisstische Gesellschaft

Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Wie narzisstisch bin ich selbst?

Das Buch “Die narzisstische Gesellschaft” von Hans-Joachim Maaz ist zwar kein christliches Buch, aber die Beschreibung hat mich sofort angesprochen:

Der narzisstische Mensch ist im Kern ein um Anerkennung ringender, stark verunsicherter Mensch. So tut er alles, um die Bestätigung, die er zum Leben braucht, zu erhalten. Diese narzisstische Kompensation bedarf ständig erweiterter Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion.

Seit ein paar Monaten bin ich immer wieder über den Begriff “Narzissmus” gestolpert und wollte prüfen, wie es denn bei mir steht. Tief drin schlummerte der Verdacht, dass ich ein Narzisst inmitten von lauter Narzissten bin. Ich wollte wissen: Wie sehr definiere ich mich durch meine Umgebung?

Ja, ich gestand mir ein, dass mir die Traffic-Zahlen meines Blogs (zu) wichtig sind. Und auch, dass ich (allzu sehr) wissen wollte, was andere in der Gemeinde über mich denken. Aber so sind doch alle, nicht? Daher kann es nicht so schlimm sein, oder? Doch! Wenn nämlich der Grossteil meiner Mitmenschen ebenfalls vom Narzissmus befallen ist, und genau das ist Maaz’ Aussage:

Ich spreche auch von der großen Zahl von Menschen, die gut angepasst an die Verhältnisse und Erwartungen ihrer Umwelt relativ unauffällig, eigentlich normal und ganz anständig leben […]. Die Grenzen zwischen «noch normal» und «schon pathologisch» sind fließend, und durch das, was «alle» machen, ist ihre Bewertung verzerrt. So kann die Mehrheit einer Bevölkerung extrem selbstentfremdet und hochpathologisch leben, ohne dass das wahrgenommen wird, weil eben «alle» so sind.

Oha! Das heisst: Die Welt um mich herum ist narzisstisch und verführt mich dazu, auch so zu sein wie sie. Könnte daher “stellt Euch nicht dieser Welt gleich“ für mich heute heissen, aus der Welt des Narzissmus auszubrechen?

Ist das Buch empfehlenswert?

Hans-Joachim Maaz ist Psychotherapeut und hat 34 Jahre Erfahrung mit Neurologie und Psychiatrie. Das Buch ist daher ein “Heimspiel”. Die Beschreibungen, was Narzissmus ist und welche Auswirkungen und Gesichter diese Störung hat, waren sehr aufschlussreich. Bestechend ist auch die Beschreibung der westlichen Welt, die in ihrem Konsum gänzlich in den Mechanismen des Narzissmus gefangen ist.

Das Buch empfand ich aber als zu langfädig; einige Ausführungen kamen mehrmals vor. Ich denke das Buch liesse sich auf die Hälfte reduzieren, ohne an Inhalt einzubüssen. Wer das Buch lesen will, empfehle ich mit dem Epilog zu beginnen (Maaz’ persönliche Geschichte) und dann nur die Kapitel 1, 2, 4, 5, 6, 8, 11, 18, 21, 22, 25 zu lesen.

Was habe ich gelernt?

  • Narzissmus kommt von einem Liebes-Mangel in der Kindheit (Wunde).
  • Narzissmus ist die Verdrängung dieser Wunde, die viele Formen annehmen kann (Geschäftigkeit, ständiger Konsum, social Media ist eine Form davon, Krieg ein anderer): »[…] begünstigt eine Gesellschaft mit aktionistischer, ruheloser Geschäftigkeit und ablenkender Reizüberflutung, um Erkenntnis zu verhindern«.
  • Es gibt zwei Typen von Narzissten:
    • Grössenselbst-Narzissten holen ihren Kick aus dem Lob ihrer Mitmenschen. Das sind die Karrieretypen, welche nur deshalb Karriere machen, um von ihrer Umwelt geachtet zu werden. Es geht ihnen nicht um die Sache, sondern um sich selbst.
    • Grössenklein-Narzissten empfinden sich als Opfer ihrer Umwelt und holen ihre Nahrung dadurch, dass sie von anderen bemitleidet werden. Sie wollen keine Lösungen für ihre Probleme, da sie sonst keinen Grund mehr hätten, um bemitleidet zu werden.
  • Diese beiden Typen funktionieren am Besten in einer Wechselwirkung:
    • Unterhaltungs-Industrie: Der Star (Grössenselbst) lebt durch das Zujubeln der Menge (Grössenklein), die ein Idol brauchen, da ihr eigenes Leben sinnlos ist: »Der Fan meint nicht den Bewunderten, sondern er braucht und benutzt den Anerkannten, um sich selbst mit dessen Erfolgen aufzuwerten«.
    • Paar-Beziehung: Er (Grössenselbst) macht Dinge nur um von ihr (Grössenklein) gelobt zu werden. Beispiel: Helmut+Hannelore Kohl
    • Beide Parteien haben Interesse am Aufrechterhalten dieses Systems, darum wollen beide das System am Leben erhalten (daher glaubt Maaz auch nicht, dass sich die narzisstische Gesellschaft jemals selbst heilen wird, da sie es schlicht nicht will).
  • Ist die Menschheit seit dem 2. Weltkrieg besser geworden? Nein, es wurden nur die Fahnen gewechselt: Hitler (Grössenselbst) wurde vom Volk (Grössenklein) verehrt und Deutschland (Grössenselbst) lebte ihren Narzissmus durch Krieg aus. Seither wird der Narzissmus durch Konsum genährt. »Es darf nur nicht der Strom ausfallen oder der Zugang zu den “Spielen” nicht zu teuer werden, sonst bricht das gesellschaftlich aufgebaute und kollektiv genutzte Abwehrgebäude zusammen, und die Ablenkungsenergie wird sich dann in aller Regel destruktiv austoben«.
  • Unsere Wirtschaft ist ganz auf die “Gier” der Menschen ausgerichtet: die Gier und die Möglichkeit Schulden aufzunehmen ist der Treiber allen Wirtschaftswachstums: »Die Gier ist das narzisstische Symptom der Wachstumssucht, mit der Konsequenz, dass ein anderes Gesellschaftsmodell, das ohne materielles Wachstum auskäme, gar nicht für möglich gehalten wird – ähnlich wie bei Drogensüchtigen, die sich ein abstinentes Leben gar nicht mehr vorstellen können«.
  • Eine Erziehung mit Lob und Tadel fördert den Narzissmus der Kinder (sie tun Dinge nur, um den Eltern zu gefallen).
  • Ein narzisstischer Mensch ist grundsätzlich “willenlos”, denn er orientiert sich nur an seinem Mitmenschen: »Er richtet sich mit seinem Wollen und Nichtwollen nach den Reaktionen anderer und weiß am Ende gar nicht mehr, wer er wirklich ist und was er will«.

Was ich im Buch vermisst habe

  • Maaz eröffnet das Buch mit der griechischen Sage des Narziss, aber es fehlt dann der Schluss, dass das Problem schon immer bestand. Denn Kinder haben die Wunde von ihren Eltern. Aber ihre Eltern haben ihrerseits diese Wunde. Das Problem ist, dass wir alle in eine sündige Welt hineingeboren wurden (Erbsünde).
  • Maaz geht praktisch nicht auf Social Media ein. Er ist auch schon über 60, daher kam er wohl damit nicht wirklich in Kontakt.
  • Ebenfalls hätte ich mir eine etwas tiefere Analyse der Unterhaltungsindustrie (Fernseher, Tageszeitung, Internet) gewünscht.
  • Wenn Lob und Tadel den Narzissmus meiner Kinder und Mitmenschen fördern, wie kann ich ihnen dann Feedback geben?
Älterer Beitrag: Klaus Bergers Ode an die Bibel Neuerer Beitrag: G.K. Chesterton: 5 philosophische Kunststücke aus »Ketzer«

Kommentare

Your browser is out-of-date!

Update your browser to view this website correctly. Update my browser now

×