Wieso macht das Smartphone süchtig? Ein bisschen Theorie

Justin Rosenstein – Erfinder des Facebook-Like-Buttons – blockierte auf seinem Laptop Reddit und Snapchat und limitierte Facebook. Doch das genügte nicht. Schlussendlich kaufte er sich ein neues iPhone und beauftragte seine Sekretärin, ihm darauf eine Kindersicherung einzurichten, damit er keine Apps mehr installieren kann.

Leah Pearlman – ehemalige Team-Kollegin von Rosenstein – schloss sich per Browser-Plugin von ihrem Facebook-Newsfeed aus und stellte jemanden ein, der nun ihren Facebook-Feed beobachtet, so dass sie das nicht mehr selbst tun muss.

Es ist natürlich schön zu sehen, dass ich mit meinem Geständnis von letzter Woche nicht alleine bin. Oder auch beängstigend. Doch warum verhält es sich so? Wieso machen Smartphones so abhängig?

Der vermutlich beste Advokat gegen Smartphone-Sucht ist Tristan Harris, ehemaliger Produktmanager bei Google. Er hat bei Google ein Memo verfasst, das aufzeigt, wie Google-Apps unbeabsichtigt süchtig machen, und wie man das ändern könne. Denn immerhin hat Googles Android einen 50% Marktanteil. Er erreichte damit etwa 5’000 Google-Mitarbeiter und hatte damit eine interne Diskussion ausgelöst.

Die Bottom-Line: Smartphone-Apps bringen Nutzer dazu, Dinge zu tun, welche sie aus freien Stücken gar nicht bereit wären zu tun. Sprich: sie nutzen psychische Schwachstellen aus. Der Clou ist, dass der Nutzer das nicht merkt sondern denkt: “Quatsch! Schwachstellen! Ich doch nicht!”.

Hier drei der fünf Punkte aus seinem Memo – angereichert mit weiteren Facts aus seinem TEDx-Talk und einem ausgezeichneten Guardian-Artikel.

Schwachstelle 1: Zeitprognosen sind schwierig

Auch schon mal passiert? Du nimmst das Smartphone um etwas nachzuschauen. Oh. Eine Notification. Draufgeklickt und eine Viertelstunde später: »was wollte ich eigentlich ursprünglich tun?«.

Schwachstelle: die menschliche Psyche ist schlecht, die Dauer einer Handlung vorherzusehen. Insbesondere am Smartphone.
“Nur noch schnell…”. Mit dieser Phrase nimmt mich schon meine Frau hoch.

Wenn es im Voraus möglich wäre zu wissen, wieviel Zeit der Klick auf die Notification auffressen wird, würde ich mich vermutlich anders entscheiden. Doch genau diesen Schwachpunkt nutzen Apps mit Notifications aus, um den Nutzer “reinzusaugen” und “in der App zu behalten” (mehr dazu bei “Schwachstelle 3” unten).

Schwachstelle 2: Periodische Belohnungen machen süchtig

“Swipe-Down” etwas ehrlicher

Bei Langeweile oder bei Enttäuschungen oder bei Anstrengungen sucht das Hirn einen Ausweg: ein kurzer Snack! Vielleicht ist ein neues Mail reingekommen? Oder ein Tweet? Oder lass mich die News checken um zu sehen, was Trump jetzt schon wieder angestellt hat.

Und jetzt kommts: um neue Mails oder Tweets zu schecken, haben die Entwickler das “Swipe-Down” erfunden: Man streicht mit dem Finger von oben nach unten um zu sehen, ob was neues reingekommen ist. Die Ähnlichkeit zu einem Spielautomat (“Slot Machine” oder “Einarmiger Bandit”) ist verblüffend. Jedes Mal wenn man “zieht”, kommt was raus. Ein neues Mail, eine News, oder vielleicht nichts. Wie am Automat.

Loren Brichter, der dieses Feature erfunden hat (per Zufall, denn es gab einfach keinen Platz für einen “Refresh-Button”) meint dazu, er sei verwirrt, dass dieses Feature so lange überlebt habe. Denn Apps könnten auch gut ganz automatisch updaten. Aber auch Slot-Machines könnten automatisch spielen. Tun sie aber nicht.

Dazu Brichter:

Smartphones sind nützliche Tools, aber sie machen süchtig. Swipe-Down zum Refreshen macht süchtig. Twitter macht süchtig. Dies sind keine guten Dinge. Als ich daran arbeitete, war ich nicht genügend reif um darüber nachzudenken. Ich sage nicht, dass ich jetzt reif wäre, aber ein bisschen mehr schon, und ich bedaure die Kehrseite dieser Medaille.

Schwachstelle: die menschliche Psyche verlangt nach Linderung bei Langeweile, Enttäuschungen, Anstrengnungen, etc. Und wenn man sich daran gewöhnt hat, dieses Bedürfnis mit dem Smartphone zu befriedigen, so vertiefen sich diese neurologischen Pfade, so dass dieser Reflex immer stärker wird. »Dies sind die gleichen neurologischen Schaltkreise, welche Menschen dazu veranlasst, nach Essen, Komfort, Wärme oder Sex zu streben« meint Chris Marcellino, ehemaliger Apple-Engineer und nun Neurochirurgist.

Schwachstelle 3: Der Weg des geringsten Widerstandes

Hat es eine App geschafft, einen Nutzer zu triggern, so versucht sie ihn dann möglichst lange zu halten. Bei Youtube kommt das nächste Video automatisch. Bei Netflix auch. Bei Facebook kommen kontroverse Beiträge zuoberst, denn dies behält den Nutzer erwiesenermassen länger in der App.

Doch wie kommen die Apps zu diesen Kniffs? Sind das gezielte psychologische Manipulationen?

Nein. Im Software-Engineering gibt’s ein Konzept das heisst A/B-Testing: Ein neues Feature – z.B. ein neuer Sortier-Algorithmus bei Facebook – zeigt man erst mal einer Test-Gruppe A, die Gruppe B merkt noch nichts davon. Und nun vergleicht man, welche Gruppe besser abschneidet. Apps wie Facebook und Youtube optimieren auf möglichst lange Verweildauer. Und so kommt es, dass ein Entwickler-Team plötzlich über ein Feature stolpert, das die Performance signifikant erhöht. Und “zufällig” spricht das genau eine Schwachstelle der menschlichen Psyche an.

Und da das Internet eine “Schlacht um die Nutzer-Aufmerksamkeit” ist, müssen die anderen Apps nachziehen: Nachdem Youtube das Autoplay eingeführt hat, ist auch Facebook nachgezogen. Sonst ist man ziemlich schnell weg vom Fenster.

Schwachstelle: die menschliche Psyche funktioniert nach “Reflexen” (vergleiche schnelles Denken im “schnelles Denken, langsames Denken”). Spricht eine App diese Reflexe an, kommt der Mensch nicht mehr dazu, zu reflektieren und aus der App auszusteigen (“wie lange will ich hier eigentlich noch weiterschauen?”) und bleibt im Sog der App gefangen.

Wie reagierte Google auf das Memo?

Soviel zum Inhalt des Memos von Tristan Harris. Das Echo darauf war bei Google positiv: Bis in die Chefetagen fanden die Argumente Gehör. Harris wurde zum “Design-Ethiker” befördert. Das Problem war, dass er da keine Entscheidungsgewalt hatte und nur weiter vor sich hin grübeln konnte. Sprich, die Sache ist im Sand verlaufen.

Denn – und nun kommt der wichtigste Gedanke dieses Beitrags –

Google ist Werbefinanziert.

Je mehr Werbung Google anzeigen kann, desto mehr Geld verdient sie.

Sprich je häufiger und je länger Nutzer auf der App sind, desto mehr Geld.

Und Google ist Börsen-Kotiert. Und die Aktionäre wollen Geld. Da kann man lange lieb sein wollen mit dem Nutzer. Schlussendlich macht man die App, welche am meisten Geld reinbringt.

Google und Facebook verdienen mächtig viel Geld. In der Liste der wertvollsten Firmen der Welt (nach Marktwert) ist Google auf Platz 3 und Facebook auf Platz 5.

Wird sich etwas ändern?

Als Tristan Harris merkte, dass sich bei Google nichts ändern wird, hat er gekündigt und die Organisation “Time Well Spent” ins Leben gerufen. Damit versucht er, an Firmen wie Facebook zu appellieren sowie den Nutzer aufzuklären.

Harris meint:

Ich glaube, dass sich etwas ändern wird – die Frage ist nur: woher kommt der Wandel?

Und verweist darauf, dass auch die Bio-Lebensmittel mit kleinen Produzenten angefangen haben.

Doch ich erwarte von solchen Initiativen eher wenig. Denn diese Mechanismen sind Markt-Getrieben und das Business-Modell von News und Social Media ist nunmal Online-Werbung. Und dass sie sich von diesem Business-Modell verabschieden ist sehr unrealistisch. Oder kann sich jemand vorstellen, für Facebook oder Youtube Geld zu zahlen?

Was für mich bleibt ist persönlich Verantwortung anzunehmen.

Was bleibt, ist zuzugeben, dass ich anfällig bin auf Smartphone-Sucht. Dass ich nicht so handle, wie ich eigentlich will.

Persönlich fing ich an, Schritte zu gehen. Und nicht nur ich für mich, sondern auch für meine Kinder. Dazu nun – wie letztes mal versprochen – einige Beiträge ab nächster Woche.

 
 


 

Weiterführende Artikel

Wen es interessiert, mehr über dieses Thema zu lesen: Bester “Primer” für dieses Thema finde ich den Guardian Artikel: “Our minds can be hijacked”. Des weiteren kann ich diese Autoren empfehlen:

__Tristan Harris__: Ex-Google-Employee, jetzt Initiator von "Time Well Spent". Fragt sich (wie ich auch), wieso dieses Thema nicht die Titelseiten von allen Magazinen füllt. Lohnenswert sind sein [TED-Talk](https://www.ted.com/talks/tristan_harris_the_manipulative_tricks_tech_companies_use_to_capture_your_attention) wie auch seine [Posts und Notizen auf Medium](https://medium.com/@tristanharris)  __Anitra Eggler__: Journalistin und Rednerin. Setzt sich im deutschsprachigen Raum für "weniger digitalen Stress ein". Auf ihrer (etwas wirren…) [Homepage](http://www.anitra-eggler.com/) finden sich Artikel und Videos
__Dr. Natasha Schüll__: Kulturanthropologin und Dozentin für Medien, Kultur und Kommunikation. Ihr Buch: [Addiction By Design: Machine Gambling in Las Vegas](https://press.princeton.edu/titles/9156.html) (bin ich gerade am lesen) beschreibt die Spielsucht an Spielautomaten. Der Vergleich zu Smartphones ist geradezu frappierend. Das macht es zum vermutlich besten psychologischen Grundlagenbuch zur Smartphone-Sucht. __Roger McNamee__: Venture Capitalist. Arbeitet mit Tristan Harris an "Time Well Spent". Hat einige [spannende Artikel auf The Guardian](https://www.theguardian.com/profile/roger-mcnamee). z.B. diesen: [Why not regulate social media like tobacco or alcohol?](https://www.theguardian.com/media/2018/jan/29/social-media-tobacco-facebook-google).
Älterer Beitrag: Probleme mit Smartphones haben nur andere, ich nicht. Das sahen meine Kinder anders. Neuerer Beitrag: Sieg über das Smartphone – Vergebliche Versuche

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