Wieso noch in eine lokale Gemeinde gehen?

Wenn es so phänomenale Online-Predigten gibt, wieso sollte ich überhaupt noch meine Lokalgemeinde besuchen?

Die Globalisierung lehrt uns, dass wir als Kunden die Wahl treffen sollen. Wieso soll ich ein schlechteres Produkt wählen, wenn es im gleichen Gestell dieses andere bessere Produkt zu kaufen gibt?

Ebenso in der Wahl der Sonntag-Morgen-Predigt. Wieso soll ich der rhetorisch schwächeren Predigt unserer Lokalgemeinde zuhören, wenn ich im Internet die meines wortgewandten Lieblingsprediger anhören kann - und dies auch noch bequem von zu Hause aus? Diese Frage gewinnt gerade in der Pandemie-Zeit an Relevanz. Schätzungen sagen, dass nach der Pandemie ein Drittel der Gemeinde nicht mehr in den physischen Gottesdienst zurückkehrt. Ob die Schätzung stimmt oder nicht, ich sehe diese Tendenz schon jetzt in unserer Lokalgemeinde bestätigt.

Ich habe mir deswegen schon ein schlechtes Gewissen gemacht, da ich hier auf dem Blog meine Lieblingspredigten vorstellte und befürchtete, dass ich Menschen zum Hören von Online-Predigten und damit zum Fernbleiben vom physischen Gottesdienst aufrief. Mit diesem Beitrag will ich dem entgegenwirken.

Ich kenne das Verlangen, sich abzusetzen. Keiner Gemeinde anzugehören. Gemeinden sind anstrengend, sind Konflikt-Herde und sorgen für Missverständnisse.

In Sprüche 18,1 heisst es:

Wer sich absondert, geht nur seinen eigenen Wünschen nach; er verweigert alles, was heilsam ist. (Spr 18,1)

Auch hier wird der Wunsch zum Absondern bemerkt, es scheint also nicht bloss ein Ding des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu sein. Doch diesem Weg des geringsten Widerstandes fehlt “alles, was heilsam ist”. Inwiefern stimmt dieser Vers in Bezug auf die Gemeinde? Hier drei Gründe, wie ich denke, dass dieser Vers wahr ist in Bezug auf die Lokalgemeinde.

1. Ein Christ ist ein Organ in einem Körper

Das Bild, dass wir Glieder eines Körpers sind, ist in unserer individualistischen Gesellschaft eine Beleidigung. «Wie? Meine Aufgabe besteht darin, Teil eines Ganzes zu sein?».

Rick Warrens Buch “The Purpose Driven Live” hat mich bezüglich Gemeinde sehr herausgefordert, er paraphrasiert Römer 12,4-5 folgendermassen:

Jeder Teil erhält seine Bedeutung vom Körper als Ganzem, nicht umgekehrt. Der Leib, von dem wir sprechen, ist der Körper von Jesus, der aus auserwählten Menschen besteht. Jeder von uns findet seine Bedeutung und Funktion als Teil dieses Leibes. Aber als abgehackter Finger oder abgeschnittener Zeh hätten wir keine Bedeutung, oder?

Dieses Zusammenwirken der Glieder passiert einfach nicht, wenn ich mir meinen Lieblingsprediger anhöre. Es ist schon praktisch unmöglich, wenn die Gottesdienste online gehalten werden (das muss aber derzeit leider so sein), doch sich deshalb emotional von der Gemeinde lösen und denken “mir fehlt eigentlich nichts” gleicht einem Organ, das sich entscheidet, nicht mehr Teil des Körpers zu sein. Es wird schrumpfen und absterben.

Teil der Gemeinde zu sein, ist während der Pandemie natürlich erheblich schwieriger. Bei uns in der Gemeinde haben wir ein Ticketing-System, wo die fünfzig Plätze per “first come, first served” vergeben werden. Die Plätze sind jedes Mal “ausverkauft”, was mich einerseits freut, andererseits aber auch traurig macht, da ich sehe, dass einige gerne physisch präsent sein würden, es aber nicht können.

Beim physischen Gottesdienst wird zudem nach der Predigt die Gemeinschaft aufgelöst. Kein Kaffee. Kein Zusammensitzen. Es können nur noch ein paar Sätze ausgetauscht werden, ehe der Saal geschlossen wird.

Darum, wenn wir physisch anwesend sein können, versuchen wir eine Viertelstunde vor dem Gottesdienst da zu sein, damit wir wenigstens noch ein paar kurze Gespräche mit unseren Geschwistern haben können.

2. Jesus wird sichtbar in der physischen Gemeinde

Was mich bei 1. Korinther 12 überrascht hat:

Denn gleichwie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des einen Leibes aber, obwohl es viele sind, als Leib eins sind, so auch Christus.

Ich dachte immer, dass Jesus bloss der Kopf der Gemeinde ist, aber hier steht, dass Christus die Gemeinde ist. Das heisst, er wird sichtbar in der Gemeinde. Nicht bloss in der Predigt, sondern im Zusammenkommen.

Wie werden andere die Gemeinde Jesu erkennen?

Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. (Joh 13,35)

Die Liebe untereinander passiert ganz einfach nicht, wenn wir uns nicht treffen. Eine Online-Predigt kann wohl die richtige Lehre vermitteln, aber die Liebe, das Erkennungsmerkmal der Jünger, fehlt.

Carl Trueman zum physischen Gottesdienst:

Es macht die Anbetung hier und jetzt auch zur Feier der Gegenwart Christi angesichts seiner Abwesenheit. Tatsächlich ist die Frage, wie der physisch abwesende Christus gegenwärtig sein kann, entscheidend dafür, wie wir den Gottesdienst und seine Elemente verstehen. (Aus “A Protestant Apocalypse?“)

3. Worship wie auch die Predigt sind kein Frontalunterricht

Was bei Online-Predigten gänzlich verloren geht, ist das gemeinsame Unterstellen unter Gottes Wort, das gemeinsame Hände aufheben zur Ehre Gottes.

Sehe ich mir die Predigt von unserer Lokalgemeinde zu Hause an, habe ich noch immer das Gefühl, dass duzende andere gleichzeitig mit mir die Predigt anhören (ich sehe ja die Zahl der Anzahl Viewers).

Doch wenn ich mir meine Lieblingspredigt anhöre, dann fehlt dieser Aspekt völlig. Eine Predigt ist eben kein Frontalunterricht. Die Interaktion mit der Gemeinde ist ein wesentlicher Teil.

Die Predigt ist in gewisser Weise ein Dialog zwischen dem Gott, der sein Volk durch sein Wort mit seiner Gegenwart konfrontiert, und der Antwort des Volkes in Glaube und Reue. Erfordert das die unmittelbare, physische Nähe von Prediger und Volk? Nicht in einem absoluten Sinn […]. Aber unmittelbare körperliche Nähe ist am besten. Es mag schwer zu erklären sein, warum das so ist, so wie es schwer zu erklären sein kann, warum ein Livekonzert oder eine Theateraufführung besser ist als dasselbe im Fernsehen zu sehen, aber es ist dennoch wahr. Ein persönliches Wort wird am besten im Kontext der Begegnung zwischen dem Boten und dem Empfänger überbracht.
(Aus “A Protestant Apocalypse?

Die Gemeinde nach der Pandemie

Zum Schluss: Was wird passieren, wenn die Pandemie zu Ende ist? Wenn wir uns wieder physisch treffen können? Werden wir den Online-Gottesdienst weiter bevorzugen, weil er bequemer ist?

Dazu Trevin Wax:

Ich glaube, das Gegenteil wird der Fall sein. Es ist wahrscheinlich, dass die Coronavirus-Krise, die Gläubige daran gehindert hat, sich zu treffen, dazu beigetragen hat, dass die Menschen - vielleicht stärker als zuvor - die völlige Unzulänglichkeit der Technologie als Ersatz für persönliche Interaktion erkannt haben.

Im besten Fall können soziale Medien und andere digitale Räume wunderbare Initiationsräume sein, die zu wahrer menschlicher Verbindung führen, aber sie können niemals das Zuhause für diese Verbindungen werden; sie werden immer zu kurz kommen und etwas vermissen lassen. Wenn ich mit meiner Frau und meinen Kindern einen FaceTime-Call halte, dann ist das ein wunderbarer Vorteil der Technologie - aber letztendlich macht es mich nur begierig darauf, nach Hause zu kommen und sie wirklich zu umarmen. Das ist digital in seiner besten Form - es steigert unseren Appetit auf das echte, analoge Leben.
(Aus: “Will the Church’s Digital Wave Continue after the Coronavirus?“)

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