Beitrag von meiner Frau:
Vor eineinhalb Jahren habe ich damit angefangen, kurze Briefe des Neuen Testaments auswendig zu lernen. Die Idee dazu bekam ich aus Büchern über Christen, die wegen ihres Glaubens ins Gefängnis kamen und keine Bibel mitnehmen konnten. Das war z.B. in kommunistischen Staaten nach dem 2. Weltkrieg der Fall. Alles, was ihnen blieb, war das Gebet, christliche Lieder, an die sie sich erinnern konnten (und die sie z.T. laut sangen, was ihnen Strafen einbrachte) und auswendig gelernte Teile der Bibel. Damit konnten sie geistlich überleben. Eigentlich sind diese drei Komponenten - Gebet, Anbetung und das Wort Gottes - die Grundsteine eines Gottesdienstes. Auch in Ländern mit Verfolgung, wo Christen sich heimlich in kleinen Gruppen treffen müssen, findet man diese drei Elemente (wobei es an gewissen Orten nötig ist, den Gesang flüsternd abzuhalten).
Heute scheint es nicht nötig zu sein, grössere Passagen aus der Bibel auswendig zu lernen. Schliesslich haben wir ja alle eine Bibel zu Hause, vielleicht sogar mehrere. Und es sieht auch nicht so aus, als ob in der nächsten Zeit Bibeln bei uns verboten würden. Ganz anders war es z.B. nach dem 2. Weltkrieg in den kommunistischen Staaten. Da war es verboten, eine Bibel zu besitzen. Wer noch eine hatte, musste sie verstecken. Und eine neue kaufen konnte man nirgends. Deshalb nahmen es Leute wie Brother Andrew auf sich, Bibeln unter grossen Gefahren in diese Länder zu schmuggeln.
Ich las in einem Buch, dass eine Bibel, die eine Gemeinde bekommen hatte, zerrissen und in einzelne Bücher aufgeteilt wurde. Die Bücher wurden verteilt mit der Anweisung, sie auswendig zu lernen und dann weiterzugeben. Das tönt ziemlich mühsam. Aber etwas Gutes hat es doch: der Wert des Wortes Gottes wurde dadurch viel klarer erfasst als bei uns.
Im Buch “The Heavenly Man“, einem Bericht über Christen in China unter der kommunistischen Regierung, betete Yun, ein junger Mann, mehrere Monate um eine Bibel, nachdem ihm seine Mutter das wenige, was sie vom Glauben noch wusste, erzählt hatte (alle Missionare hatten das Land verlassen müssen und eine Bibel zu besitzen war unter harter Strafe verboten). Als er schliesslich eine bekam, lernte er so viel wie möglich davon auswendig. Später ging er in ein anderes Dorf, um den Menschen dort von Gott zu erzählen. Seine “Predigt” bestand darin, das Matthäus-Evangelium auswendig aufzusagen. Und obwohl er es ganz schnell herunterratterte, aus Angst, plötzlich nicht mehr weiter zu kommen, waren die Menschen von Gott erfasst und wurden Christen.
Als ich all das las, zog es mich irgendwie, auch einige Bücher, zumindest des Neuen Testaments, auswendig zu lernen. Ich rechne zwar nicht damit, in nächster Zeit nicht mehr an eine Bibel heranzukommen oder ins Gefängnis zu müssen, aber wer weiss, ob bis zu meinem Lebensende alles so einfach bleiben wird? Ausserdem: auch wenn ich immer eine Bibel besitzen werde und frei darin lesen kann, ist es etwas anderes, ob ich etwas nur lese oder es auch auswendig kann. Mir geht es häufig so, dass ich etwas in der Bibel lese, weglaufe, und es sofort wieder vergesse. Ausserdem finde ich es schwierig, mich zu erinnern, wo etwas in der Bibel steht. Wenn ich eine Stelle suche, muss ich ständig in der Konkordanz nachschlagen.
Ja, ich wusste schon einige Bibelstellen auswendig, wie:
Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.
Oder
Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis an der Welt Ende.
Und ja, es gab schon eine andere Zeit, wo ich einige Stellen des Neuen Testaments auswendig lernte: Mein Mann und ich stiessen vor etwa zehn Jahren auf eine englische CD, wo Verse aus dem Galater- und Philipperbrief vertont waren. Die hörten wir uns stundenlang an (v.a. weil sie für uns damals sehr wichtige neue Erkenntnisse enthielten: Wir sind nicht gerecht wegen unseren Werken, sondern aus Glauben und: Jesus ist unsere Freude, im Vergleich zu ihm ist alles andere Müll). Und selbst heute, zehn Jahre später, kann ich die meisten Lieder (und damit Bibelverse) immer noch auswendig und sie kommen mir in den Sinn, wenn ich sie brauche. Sie sind ein Schatz, den mir niemand wegnehmen kann.
Im Sommer 2019 wagte ich mich schliesslich, angespornt durch die erwähnten Bücher, daran, einen ganzen Brief des Neuen Testaments auswendig zu lernen. Ich hatte zwar einigen Respekt davor, redete mir aber Mut zu, indem ich mir sagte, wenn dieser Yun aus dem Buch das ganze Matthäus-Evangelium auswendig lernen konnte, muss es doch möglich sein, einen kurzen Brief zu schaffen.
Ich entschied mich für den 1. Petrus-Brief, da in unserer Gemeinde gerade eine Predigt-Reihe darüber geplant war. Ich las den Brief einmal durch, um zu schauen, ob er mir etwas sagte. Schon beim Lesen wollte ich am liebsten alles auswendig können, so herrliche Dinge standen dort!
Ich ging folgendermassen vor:
Ich las den ersten Abschnitt, wiederholte ihn und versuchte ihn auswendig aufzusagen. Am nächsten Tag repetierte ich diesen Abschnitt und ging einige Verse weiter. Am übernächsten Tag wiederholte ich alles von Anfang an und ging wiederum ein bisschen weiter. Schliesslich war ich so weit gekommen, dass es zu lange dauerte, jeden Tag alles zu repetieren. Also wiederholte ich nur den letzten Teil und versuchte alle paar Tage, den ganzen Text aufzusagen. Das klappte erstaunlich gut. Allerdings dauerte es eine ganze Weile, bis ich mit dem Brief, der nur fünf Kapitel hat, fertig war. Wenn ich mich recht erinnere, waren es drei bis vier Monate.
Aber es hat sich gelohnt! Eine ganze Reihe von “Gewinnen” hat sich daraus ergeben, sodass auch jetzt, eineinhalb Jahre später, noch kein Ende in Sicht ist. Wenn ich gegen den Schluss eines Briefes komme, weiss ich schon zwei weitere, die ich unbedingt auswendig lernen will!
Welche positiven Auswirkungen hat also das Auswendiglernen?
- Ich bin gezwungen, jedes einzelne Wort wichtig zu nehmen. Es ist unmöglich, etwas zu überlesen. Das und das endlose Repetieren der gleichen Sätze bewirken, dass es sich - wie mein Mann in seinem Beitrag übers Bibelstellen auswendig lernen sagt - anfühlt, als ob man die Worte gegessen hat. Es ist wirklich so! Man hat sie gekaut und hinuntergeschluckt. Nicht nur daran geschnuppert. Oder, anders gesagt: Man hat sie kennengelernt. Nicht nur schnell angeschaut, wie man einen Passanten kurz mustert, sondern kennengelernt wie eine Person, die ein Freund wird.
- Nachdem ich vier Briefe auswendig gelernt habe (1. Petrus, Kolosser, 2. Timotheus, Philipper), ist für mich plötzlich viel klarer, welche Themen (zumindest in den Briefen) zentral sind. Das sind die, denen in jedem Brief ein Abschnitt gewidmet ist. Einige werden sogar drei mal im gleichen Brief erwähnt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier einige Beispiele:
- Im 2. Timotheus fordert Paulus Timotheus drei mal auf, zum Leiden bereit zu sein. Ausserdem erwähnt er vier mal, dass er wegen des Evangeliums im Gefängnis ist und sagt darüber hinaus, dass jeder, der zu Christus gehört und entschlossen ist, so zu leben, dass Gott geehrt wird, mit Verfolgung rechnen muss. Auch in den anderen Briefen ist Leiden ein Thema, das immer wiederkehrt.
- In allen vier Briefen ist über längere Abschnitte hinweg die Rede von Menschen, die das Evangelium verfälschen. Vor ihnen wird immer wieder gewarnt. Man erkennt sie daran, dass sie nur irdische Interessen haben, dass sie geldgierig sind und Ansehen wollen, dass sie aber gleichzeitig einen frommen Anschein machen und den Menschen Lasten auflegen, die nicht nötig sind und an die sie sich selber nicht halten.
- Ebenfalls findet man fast in jedem Brief längere Abschnitte über Jesus und sein Erlösungswerk, die wie Gedichte daherkommen. Das sind immer herrliche Stellen, Loblieder auf Jesus, unseren Erlöser, der uns durch Seinen Tod gerechtfertigt hat.
- Weiter gibt es immer Abschnitte über das Verhalten als Christ. Dass man die alte Natur mit ihren sündigen Begierden ablegen soll und wie man als Christ das Gute tun kann. Oft werden auch konkrete Beispiele aufgezeigt (wie im 1. Petrus und Kolosser), etwa wie sich Sklaven, Herren, Männer, Frauen und Kinder einander gegenüber verhalten sollen. Listen mit Sünden oder guten Eigenschaften finden sich auch immer wieder.
- Scheinbar unwichtige Teile der Briefe wie Begrüssungen, Mitteilungen, verschiedene persönliche Anweisungen und abschliessende Grüsse enthielten unerwarteterweise interessante Informationen. So entdeckte ich z.B. im Philipper 4 einen langen Abschnitt übers Geben, der mich sehr ermutigte und den ich bisher immer überlesen hatte. Auch die ersten Sätze eines Briefes, wo sich der Schreiber vorstellt und eine Kurzzusammenfassung des Evangeliums macht, zeigen, worauf das Gewicht gelegt wird.
Ausserdem musste ich lachen, als ich nach wochenlangem Auswendiglernen zu der Stelle kam, wo es heisst: “Mit der Hilfe von Silvanus (…) habe ich euch diesen kurzen Brief geschrieben.” (1. Petrus 5,12) - Ich habe in jedem Brief kostbare Schätze entdeckt, die jetzt in meinem Herz sind und die ich immer wieder hervorholen kann.
- Es passiert jetzt häufig, dass mir zu einem Thema oder einer Frage eine Bibelstelle in den Sinn kommt. Und das ist dann nicht nur ein Satz, sondern gleich einen ganzen Abschnitt zu diesem Thema. So bin ich um einiges mehr vorbereitet, mit Menschen über den Glauben zu sprechen. Ich fühle mich nicht mehr so im “leeren Raum” wie vorher, denn ich habe handfeste Aussagen bereit, die einfach da sind, ohne dass ich sie nachschlagen muss.
- Ich weiss, wo die Bibelstellen stehen. Zwar nicht auf den Vers genau, aber in welchem Brief und in welchem Kapitel. So finde ich sie auch viel schneller, wenn ich sie jemandem zeigen will.
Zum Schluss: ich möchte diese Briefe natürlich auf keinen Fall wieder verlernen! Deshalb repetiere ich sie meistens ein Mal pro Woche. Da ich jeden Mittwoch mit dem Velo einkaufen fahre, was eine Stunde hin und eine Stunde zurück dauert, sage ich einen Teil davon auf dem Weg auf. Wenn mich also mal jemand laut vor mich hinredend auf dem Velo antrifft, bin ich vielleicht gerade den Kolosserbrief am rezitieren…